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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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Karawane eine hölzerne Hängebrücke, die so sehr schwankte, dass alle absteigen mussten und die Führer die Mulis am Zügel hinüberführten. Mitten auf der schwingenden Brücke spähte Dorothea vorsichtig nach unten und entdeckte einen Wasserfall, der über einen Felsen hinweg in eine endlose Tiefe stürzte. Es war ein grandioses Naturschauspiel, das sie am liebsten gezeichnet hätte, doch dafür war keine Zeit.
    Gerade wollte sie am Ende der Brücke wieder aufsitzen, da nahm sie neben sich aus den Augenwinkeln eine hastige Bewegung wahr. Einer der Führer hatte einen Stock wie einen Speer in den Boden gerammt. An dem spitzen Ende wand sich eine etwa vierzig Zoll lange grüne Schlange mit einer zackenförmigen schwarzen Zeichnung auf der Oberseite. Die Kinder schrien entsetzt auf.
    »Da haben Sie aber Glück gehabt, Fräulein Fassbender«, hörte sie hinter sich die Stimme von Erik Jensen. »Das war eine Lanzenotter. Ihr Biss ist tödlich.«
    Dorothea schickte ein Gebet zum Himmel, Gott möge auch auf dem letzten Stück der Reise seine Hand schützend über sie halten. Von nun an prüfte sie den vor ihr liegenden Pfad mit höchster Aufmerksamkeit, ob sich noch einmal eine Schlange zeigte.
    Am Morgen des zwölften Tages lichtete sich der Urwald. Sie erreichten ein Plateau, von dem aus der Blick über grün bewachsene Hügel schweifte. An dieser Stelle teilte sich der Weg. In nördlicher Richtung führte er nach Alajuela, nach Osten hin in die Hauptstadt San José. Nun hieß es, ein weiteres Mal Abschied zu nehmen. Diesmal waren viele Hände zu schütteln. Einerseits war Dorothea froh, fast schon am Ziel zu sein, andererseits würde sie die Kinder und die Unterrichtsstunden auf dem Schiff vermissen. »Ich wünsche euch allen Glück und Gottes Segen.«
    »Du musst uns aber unbedingt besuchen, Fräulein Fassbender«, bettelte die kleine Roswitha und hielt Dorothea am Rock fest. »Und dann erzählst du uns wieder spannende Geschichten, versprochen?«
    Erik Jensen mahnte zum Weiterreiten, denn er wollte noch vor Einbruch der Dunkelheit ankommen. Dorothea war die Eile nur recht, hätte sie doch ungern nur mit dem Kaufmann und dem Muliführer eine weitere Nacht im Freien verbracht.
    Schließlich erreichten sie das Hochland. In dessen Mittelpunkt, im Boca-del-Monte-Tal, lag die Hauptstadt San José. An den Rändern der Hochebene ragten hohe Berge mit abgeflachten Kuppen auf. Vulkane, von deren zerstörerischer Kraft Dorothea bereits gelesen hatte. Hier, auf über dreieinhalbtausend Fuß Höhe, war es längst nicht so heiß wie an der Küste, die Luft nicht so feucht wie im Urwald. Dorothea schloss für einen Moment die Augen und wähnte sich an einem malerischen Sommertag mitten in Köln.
    Je näher sie der Stadt San José kamen, desto breiter wurde der Weg. Er führte vorbei an Plantagen, auf denen orangefarbene, kirschähnliche Früchte an sattgrünen, mannshohen Bäumen wuchsen. Dorothea erinnerte sich an eine Darstellung in einem Botanikbuch – es mussten Kaffeepflanzen sein. Händler mit Leiterwagen kamen ihnen entgegen und grüßten freundlich. Junge Frauen mit Henkelkörben über dem Arm eilten an ihnen vorbei und warfen Erik Jensen scherzend einige Worte zu. Sie hatten samtartige dunkle Haut und tiefschwarze Haare, trugen knöchellange bunte Röcke und weiße Blusen. Bildschöne Frauen mit anmutigen Bewegungen und tänzerischem Gang. Dorothea wunderte sich, dass sie auf dem steinigen Untergrund barfuß liefen.
    Schließlich gelangten sie in die Stadt mit ihren unbefestigten, staubigen Straßen. In alle Himmelsrichtungen waren Droschken unterwegs und beförderten Fahrgäste, die sich in ihrem Aussehen kaum von besser gestellten Bürgern in Köln oder Hamburg unterschieden. Männer mit Zylindern, Gehröcken und eng geschnittenen Hosen, Frauen mit Schuten aus fein geflochtenem Stroh oder glänzender Seide, eng geschnürten Taillen und Krinolinen, die den Röcken die nötige bauschige Weite verliehen.
    Einheimische schlenderten umher oder blieben für ein Schwätzchen mit Bekannten stehen. Hunde schnüffelten im Müll und suchten nach Essensresten. Kinder banden einer Katze ein Glöckchen an den Schwanz oder schreckten einen dösenden alten Mann in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda auf. Ein süßlicher, fauliger Duft lag wie eine Glocke über der Stadt. Anders als die gewundenen Sträßchen und Gassen Kölns waren die Straßen in San José wie ein Schachbrettmuster angelegt. Von Ost nach West verliefen die Avenidas

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