Das Land zwischen den Meeren
ins Land gekommen war, bekam als Erste ihre Papiere mit der Aufenthaltsgenehmigung ausgehändigt. Sie wollte gerade die Dokumente an sich nehmen, als Erik Jensen wie selbstverständlich seine Hand danach ausstreckte und sie in seiner Rocktasche verschwinden ließ. »Bei einem Mann sind solche Papiere sicherer aufgehoben«, sagte er mit unbewegter Miene. Dorothea war erst sprachlos und öffnete schließlich den Mund, um zu protestieren. Doch dann schwieg sie, um die Mitreisenden nicht auf das merkwürdige Verhalten des Kaufmanns aufmerksam zu machen und Erklärungen abgeben zu müssen.
Die Formalitäten für die Einwanderer zogen sich über mehr als zwei Stunden hin, weil die Pachtverträge für die drei Familien noch vom Spanischen ins Deutsche übersetzt werden mussten. Hierbei erwies sich Jensen als hilfreicher Dolmetscher, und Dorothea fragte sich, ob sie ihn womöglich doch falsch eingeschätzt und zu schlecht über ihn geurteilt hatte.
Die costaricanischen Beamten prüften umständlich jede Urkunde, füllten seitenlange Formulare in dreifacher Ausfertigung aus, die sie dann abstempelten. Ein Exemplar überließen sie jeweils den Neubürgern. Mittlerweile waren die Kinder müde und hungrig geworden. Allen machten die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit zu schaffen. Anders als auf dem Schiff sorgte hier kein noch so kleiner Windhauch für Abkühlung. Die Reisenden kehrten in einem Gasthaus ein, wo sie zum ersten Mal ein Gericht vorgesetzt bekamen, das die Einheimischen als ihr Nationalgericht bezeichneten und zu allen Tageszeiten aßen: Gallo Pinto, gebratenen Reis mit Zwiebeln und schwarzen Bohnen. Gewürzt wurde die Speise mit klein gehacktem, frischem Koriander.
Da an diesem Nachmittag nicht genügend Maultiere für Menschen und Gepäck zur Verfügung standen und die Familien nur gemeinsam weiterreisen wollten, wurde eine Übernachtung in Puntarenas unumgänglich. Erik Jensen reservierte für sich ein Hotelzimmer und für die übrigen Reisenden eine Schlafstätte in einem Pferdestall. Am nächsten Morgen wollte man schon in aller Frühe aufbrechen.
Erschöpft ließ Dorothea sich am Abend ins Stroh fallen, wusste nicht, was sie denken, fühlen und hoffen sollte. Noch immer meinte sie, das Schlingern des Schiffes zu spüren und das Salz auf den Lippen zu schmecken. Links neben sich hörte sie das leise Schnarchen von Helene Kampmann, rechts die wispernden Stimmen von Lotte und Klara. Dieser Tag hätte der erste Tag in ihrem neuen Leben an Alexanders Seite sein können. Das Schicksal hatte es anders gewollt, und sie musste es annehmen, wenn sie nicht verzweifeln wollte. Ganz gleich, was ihr widerfahren würde, sie wollte dieses Land lieben und sich darin behaupten, weil Alexander es so gewünscht hätte. Und vielleicht würde sie irgendwann nach Deutschland zurückkehren, wenn die Wunde in ihrem Innern verheilt war. Über diesem schmerzlichen und zugleich tröstenden Gedanken schlief sie ein.
Das Tageslicht kam so unvermittelt und rasch, wie es fast auf die Minute genau zwölf Stunden zuvor geschwunden war. Kurz vor sechs Uhr erwachte die Natur, und mit ihr regten sich die Menschen. Ungewohnte Laute drangen an Dorotheas Ohr, die sie nicht alle einordnen konnte. Auf dem Schiff hatte sie fast fünf Monate lang nur die Geräusche flatternder Segel im Wind und das Klatschen der Wellen gehört. Hier rissen sie vielstimmige Vogelrufe aus dem Schlaf. Ein anderer, seltsamer Laut mischte sich in dieses Konzert, ein Schreien oder Brüllen im rhythmischen Abstand von mehreren Sekunden, das keiner menschlichen Stimme ähnelte.
Zum Frühstück gab es das Gleiche wie am Abend zuvor: Gallo Pinto. Die beiden Jüngsten, die Zwillinge Roswitha und Richard Reimann, zogen einen Flunsch und rührten keinen Bissen an. Bevor ihre Mutter sie ermahnen konnte, waren draußen vor dem Gasthaus Pferdegetrappel und Stimmen zu hören. Die Mulis mit ihren Führern standen bereit.
Der Wirt kassierte das Geld für die Übernachtungen und den Ritt in das Hochland. Dabei bewies der Kaufmann erneut seine Hilfsbereitschaft. Die Reisenden gaben ihm ihre aus Deutschland mitgebrachten Silbertaler, und er beglich für sie die Rechnung in der Landeswährung: in Reales und Piaster. Dorothea war froh, noch einigeMünzen übrig zu haben, sodass Jensen diese zusätzlichen Kosten nicht auf ihr Arbeitskonto anrechnen konnte. Die Kinder teilten sich zu zweit ein Muli. Nur Max Meier, der größte und kräftigste der Jugendlichen, bekam ein eigenes
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