Das Land zwischen den Meeren
Fenster müssen ausgebessert werden. Aber danach müssen Sie mich unbedingt besuchen.«
Dorothea blickte Señora Miller hinterher, wie sie mit zufriedenem Lächeln das Geschäft verließ und draußen in eine Droschke stieg. Von nun an würde es nur noch zehn Monate dauern, bis sie ihre Schulden abbezahlt hätte. Danach wäre sie frei und die Zeit in Jensens Gemischtwarenladen nur noch eine unbedeutende Episode in ihrem Leben.
Ihr Arbeitstag begann um halb sieben Uhr morgens, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang, und endete um halb sechs Uhr gegen Abend, eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang. In der Mittagspause aß sie bei ihrer Wirtin, die nur wenige Gerichte zubereiten konnte. Morgens gab es Huevos Fritos, Spiegeleier, mittags Albóndigas, Fleischklöße mit Tomaten und Zwiebeln, oder Gallo Pinto, den Lieblingseintopf der Costaricaner, den die Wirtin abwechselnd mit weißen, roten oder schwarzen Bohnen zubereitete. Am Abend tischte sie Tortillas auf. Mercedes Castro Ibarra, die immer dasselbe dunkelgraue Kleid mit den abgestoßenen Ärmeln trug, saß meist gelangweilt und stumm bei Tisch. Dann wieder stand sie unvermittelt während des Essens auf und putzte die Fenster oder fegte den Gehsteig vor dem Haus.
Alle Versuche Dorotheas, sie in ein Gespräch zu verwickeln, endeten damit, dass die Wirtin sich abwandte und selbstvergessen einige seltsame Tanzbewegungen machte, während sie vor sich hin summte und mit imaginären Kastagnetten klapperte. »Die ist nicht ganz richtig im Kopf«, behaupteten manche Kunden im Laden. »Vor der muss man sich in Acht nehmen. Sie ist eine Hexe«, raunten andere.
In der Stadt und den umliegenden Dörfern hatte sich rasch herumgesprochen, dass in Jensens Laden eine hübsche junge Deutsche arbeitete. Die Frauen kamen, weil sie von Dorothea freundlich und kompetent beraten wurden. Aber es kamen auch immer mehr Männer, die die Einkäufe sonst lieber ihren Ehefrauen überließen. Weil sie ohnehin geschäftlich in der Stadt zu tun hatten oder weil sie zufällig vorbeikamen, wie sie gern vorgaben. Dann verwickelten sie Dorothea in langwierige Gespräche und verlangten nach Waren, die im Geschäft gar nicht vorrätig waren, nur um wenige Tage später erneut danach zu fragen.
Sonntags blieb der Laden geschlossen. Dann ging Dorothea in die Kirche, die nur wenige Fußminuten entfernt lag, und besuchte die Heilige Messe. Die Iglesia Santa Maria war Ersatzkirche für die nur einen Häuserblock entfernt liegende Kathedrale, die 1821 bei einem Erdbeben zerstört worden war und von deren einstiger Pracht nur noch eine traurige Ruine zeugte. Mercedes Castro Ibarra hatte Dorothea beim ersten Mal hastig ein schwarzes Tuch über den Kopf geworfen, bevor diese das Haus verließ. Und dann sah Dorothea, dass alle Kirchgängerinnen ihr Gesicht fast vollständig verhüllt hatten.
Gern hätte sie nach der Heiligen Messe einmal die nähere Umgebung erkundet oder wenigstens die nächstgelegenen Stadtteile, doch man hatte sie gewarnt, allein und ohne männliche Begleitung außerhalb des Stadtkerns unterwegs zu sein. So etwas schicke sich nicht für eine Frau, außer sie war ein Dienstmädchen und zum Einkaufen unterwegs oder auf einem Botengang.
Und so übersah sie die Blicke und Pfiffe der jungen Männer, die ihr begegneten und sie gelegentlich bis vor die Haustür verfolgten. Die der Ticos, die selten einem Abenteuer abgeneigt waren, erst recht dann nicht, wenn es sich um eine hübsche Ausländerin handelte. Und die der Zugewanderten, die ihre Heimat verlassen hatten und nunmehr auf der Suche nach einer Frau waren, die das Leben in dem neuen Land mit ihnen teilte.
Die Landeshauptstadt bot kaum Gelegenheit zur Zerstreuung. Es gab keine Kaffeehäuser und nur einige wenige Gasthäuser, die meist von Engländern oder Franzosen geführt wurden. Der einzige gesellschaftliche Höhepunkt fand am Samstag statt, dem Markttag. Händler aus den umliegenden Dörfern boten hier ihre Erzeugnisse an. Früchte, Gemüse, Hühner, Eier, Butter, Reis, Kakao und Käse. Des Weiteren wurden feilgeboten: Hängematten, Kinderspielzeug, Küchengeräte, Kleiderstoffe, Hüte und Pferdegeschirr. An einem solchen Markttag drängten sich zahlreiche Käufer und Verkäufer im Zentrum von San José.
Davon wusste Dorothea allerdings nur vom Hörensagen. Auch wenn es nur wenige Schritte gewesen wären, blieb ihr keine Gelegenheit, sich das Treiben einmal persönlich anzuschauen, weil sie von früh bis spät im Laden stehen musste.
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