Das Land zwischen den Meeren
schon sei t über zwanzig Jahren in Costa Rica. Ihr Hutmachergeschäft in der Nähe des Parque Central hatte sie wenige Monate zuvor an ihre langjährige Mitarbeiterin verkauft. Dorothea sprach häufiger mit Kunden Deutsch, denn am westlichen Stadtrand von San José, Richtung Santa Ana, lebten mehrere Schweizer Familien. Nichtsdestoweniger machten Dorotheas Spanischkenntnisse Fortschritte. Auf dem Schiff hatte sie regelmäßig ihr Wörterbuch zur Hand genommen und Vokabeln gelernt, doch damals wusste sie noch nicht, wie die Worte ausgesprochen wurden. Sie liebte das Melodische des Spanischen, wollte so schnell wie möglich alles verstehen. Die einheimischen Kunden freuten sich, wenn Dorothea nach Begriffen fragte, lobten, wie leicht sie sich Redewendungen merken konnte.
Die rundliche kleine Schweizerin mit den lustigen bernsteinfarbenen Augen und den grauen Haarflechten über den Ohren griff nach den durchsichtigen Glasflakons und strich andächtig mit den Fingerspitzen über das pergamentfarbene Etikett mit den schnörkeligen Buchstaben. »Zeigen Sie mal her … Ach, am besten nehme ich zwei große Flaschen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Mein Edward, Gott hab ihn selig, erzählte mir, sogar der französische Kaiser Napoleon habe dieses Parfum benutzt, ebenso der große deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe. Sagen Sie, ist Ihr Chef wohl wieder geschäftlich unterwegs?«
Dorothea nickte. Jensen war für einige Tage nach Puntarenas gefahren, um deutsche Waren zu bestellen und eine Schiffslieferung entgegenzunehmen. Das war ihr nur recht, denn sie arbeitete gerne allein im Laden. Sie hatte sich schnell zurechtgefunden zwischen all den unterschiedlichen Artikeln: Stoffballen, Tischdecken, Holzstühlen, Bürsten, Seifen, Duftwässern, Obstschnäpsen, Kerzenleuchtern, Porzellan, Küchengeschirr, Trinkgläsern, Blumenvasen und vielen weiteren nützlichen und dekorativen Waren.
Sogar einige Ladenhüter hatte Dorothea an die Kunden gebracht, wie etwa einen Satz olivfarbener Römergläser mit kunstvoll geschliffenem Fuß. Zuerst hatte sie ein Beistelltischchen aus dem Lager geholt und mitten im Verkaufsraum aufgestellt. Dann hatte sie ein cremefarbenes Damasttuch darübergelegt und die Gläser darauf platziert, zusammen mit einer Flasche Riesling von der Mosel und einem versilberten Korkenzieher. Auch eine mit Girlanden bemalte Blumenvase hatte umgehend ein e Käuferin gefunden, nachdem Dorothea sie auf ein kunstvoll drapiertes dunkelblaues Samttuch gestellt und einen Palmenwedel hineingesteckt hatte.
Erik Jensen ließ sie gewähren. Er schien sogar insgeheim von den Fähigkeiten seiner Verkäuferin überrascht zu sein, konnte allerdings nicht davon ablassen, sie immer wieder nach Einzelheiten zu ihrem Elternhaus, ihrem Lehrerinnenseminar und ihrem früheren Dienstherrn zu befragen. Doch sie blieb verschwiegen, hatte nur ein freundliches Lächeln und ausweichende Antworten für ihn übrig. Jensen war ihr Vorgesetzter und nicht ihr Beichtvater, und ihre Vergangenheit ging nur sie selbst etwas an.
Sein Verhalten war nie vorhersehbar, es wechselte von Tag zu Tag, mitunter sogar von einer Minute auf die nächste. Manchmal stand Jensen unvermittelt hinter ihr, wenn sie die Regale im Verkaufsraum auffüllte, oder belauschte sie vom Lager aus, wenn sie Kunden bediente. Dann wieder beachtete er sie überhaupt nicht, behandelte sie wie Luft. Auch nach achtwöchiger Arbeit bei ihm wusste sie noch immer nicht, was für ein Mensch der Kaufmann war.
»Jetzt werden Sie wie ein Frühlingsblumenstrauß duften, Señora Miller.« Dorothea wickelte die beiden Flaschen Eau de Cologne in altes Zeitungspapier ein und reichte sie über die Ladentheke.
Die Schweizerin lächelte dankbar und verstaute die Flaschen umständlich in ihrer viel zu großen Ledertasche. Als sie bezahlt hatte, musterte sie Dorothea mit kritischem Blick. »Sind Sie sicher, meine Liebe, dass das hier die richtige Arbeit für Sie ist? Ich meine … Sie sehen aus wie eine Frau, die mehr kann als nur Regale wischen und einräumen und Parfum verkaufen. Was haben Sie denn vorher gemacht?«
»Ich war Hauslehrerin. Aber die Arbeit ist schon in Ordnung für mich. So lerne ich auch einmal diese Seite des Lebens kennen. Und im nächsten Jahr werde ich mich nach einer anderen Aufgabe umschauen.«
»Das täte ich an Ihrer Stelle auch. Ach, ich möchte Sie gern einmal zu mir einladen, damit wir etwas länger plaudern können. Zurzeit habe ich die Handwerker im Haus, die
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