Das Land zwischen den Meeren
älteren Mann, mit dem sie leider keine Kinder bekommen hatte, ihrem Hutsalon, den sie am liebsten weitergeführt hätte, wenn nur ihre Sehkraft nicht so rasch abgenommen hätte. Augenzwinkernd gab sie zu, dass sie sich immer noch nicht an das landesweit so beliebte Gallo Pinto gewöhnt hatte, weil sie keinen Koriander mochte, und dass sie Costa Rica besonders zur Regenzeit liebte, weil dann das Land ganz unvergleichlich nach frischer Erde und Blüten duftete. »Aber jetzt müssen Sie unbedingt von sich erzählen, Señorita Fassbender. Von Deutschland, was Sie hierher verschlagen hat und warum Sie ausgerechnet im Laden bei Jensen arbeiten.«
Dorothea berichtete in knappen Worten von ihrer Zeit als Hauslehrerin und dass sie die Winter in Deutschland nicht vertragen hatte. Dass ihr Jensen in Hamburg begegnet sei und er ihr eine Stelle angeboten habe. Von den wahren Hintergründen dieses Arbeitsverhältnisses mochte sie nichts erwähnen. Sie schämte sich. Davon wusste nur Elisabeth. Die Gastgeberin war einfühlsam genug, keine weiteren Fragen zu stellen.
Viel zu schnell vergingen die Stunden, und als Dorothea wieder in die Kutsche stieg, hatte sie das Gefühl, einen unbeschwerten und heiteren Nachmittag bei einer Freundin verbracht zu haben. Beim Abschied hatte sie Johanna versprechen müssen, sie bald wieder zu besuchen.
Nachdem Alfonso sie vor dem Haus von Mercedes Castro Ibarra abgesetzt hatte und sie gerade die Tür hinter sich schließen wollte, bemerkte sie am Fenster der Wohnung über dem Laden eine Gestalt. Während sie bewusst umständlich den Hut absetzte, blinzelte sie unter der Krempe zur anderen Straßenseite hinüber. Dort stand Erik Jensen und hielt ein Fernrohr auf sie gerichtet.
April bis Dezember 1849
»Guten Morgen, Fräulein Fassbender. Hatten Sie einen angenehmen Sonntag?« Jensen war bereits im Lager und öffnete eine Kiste mit frisch angelieferten leinenen Küchentüchern und Schürzen.
Dorothea stutzte. Jensen hatte sich bisher noch nie nach ihrem Privatleben erkundigt. Sollte er etwa Erkundigungen eingezogen haben, wie und wo sie den gestrigen Tag verbracht hatte? Oder dachte sie wieder zu schlecht über ihren Dienstherrn, und verbargen sich aufrichtige Anteilnahme und Fürsorglichkeit hinter seiner Frage?
»Ja, das hatte ich, danke der Nachfrage.«
Jensen packte die neuen Waren in die Regale. »Ich schätze Ihre Arbeit durchaus. Sie haben ein Gespür für Dekoration, wissen, was Kunden wünschen … Aber ich möchte Ihnen gern anspruchsvollere Aufgaben übertragen. Sie dürfen das durchaus als persönlichen Vertrauensbeweis werten. Ab sofort werden Sie die Buchhaltung übernehmen. Alte Rechnungseingänge prüfen und die Formulare abheften, Mahnungen und Rechnungen schreiben … Ich plane, neue Bezugsquellen aufzutun und meine Stammkunden intensiver zu betreuen.«
Sei vorsichtig!, ermahnte Dorothea sich selbst. So viel Lob und Entgegenkommen war sie von Jensens Seite nicht gewohnt. Sie musste auf der Hut sein. »Ich freue mich über neue Aufgaben.«
»Wie schön, dass ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe.« Jensen war mit dem Umräumen fertig und strich sich die Kleidung glatt. In seinen Augen zeigte sich ein Glitzern, das Dorothea ganz und gar nicht gefiel.
»Unter der Woche können Sie sich natürlich nicht um solche geschäftlichen Angelegenheiten kümmern. Da will die Kundschaft bedient werden. Sie werden diese Tätigkeit am Sonntag erledigen.«
Das war es also! Wütend rang Dorothea nach Luft. Sie sollte ihren einzigen freien Tag opfern und sich wie eine Leibeigene behandeln lassen! Feindselig starrte sie ihren Dienstherrn an. »Wenn ich darauf hinweisen darf, Herr Jensen, arbeite ich sechs Tage in der Woche, von Montag bis Samstag, von halb sieben morgens bis halb sechs abends, abzüglich einer halben Stunde Mittagspause. Es war nie abgemacht, dass ich auch sonntags anwesend sein soll.«
Jensen ließ sich ungerührt auf einem Stuhl nieder, schlug die Beine übereinander und wippte mit der Fußspitze. »Nun, die Umstände ändern sich gelegentlich. Das Geschäft floriert, und das bedeutet mehr Schreibarbeit …Tja, bedauerlicherweise haben Sie sich mir gegenüber wenig zugänglich gezeigt, als ich Ihnen eine Bleibe in meinem Haus angeboten habe. Wenn unser Verhältnis … persönlicher wäre, hätte ich mir überlegt, einen Buchhalter einzustellen. Trotzdem will ich mich großzügig erweisen. Ich erlaube Ihnen, mit der Arbeit erst nach der Heiligen Messe zu beginnen. Dann
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