Das Land zwischen den Meeren
mehr in der Woche?« Johanna Miller stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte entschieden den Kopf. »Aber das darf doch nicht sein! In Costa Rica ist die Sklaverei Gott sei Dank schon seit achtzehnhundertvierundzwanzig abgeschafft. Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen! Soll ich mit Herrn Jensen sprechen?«
Dorothea erschrak. Obwohl sie sich Hilfe ersehnte, wusste sie doch, dass ein solches Gespräch nur weitere Spannungen zwischen ihr und dem Kaufmann nach sich zöge. Doch wie sollte sie der liebenswerten Schweizerin erklären, dass ihr keine andere Wahl blieb, als auf Jensens Forderungen einzugehen? »Bitte nicht, Señora Miller. Weil … ich muss noch bis zum dreizehnten Oktober ausharren.«
Johanna Miller kniff die Augen zusammen und musterte Dorothea prüfend. »Ist wirklich alles in Ordnung, Señorita Fassbender? Ich meine, Sie werden doch nicht mit einem … nun … mit einem so alten Mann angebändelt haben und sich ihm gegenüber aus Mitleid verpflichtet fühlen.«
Dorothea verneinte vehement. Etwas Ähnliches hatte auch schon Elisabeth vermutet, als sie noch Passagiere auf der Kaiser Ferdinand gewesen waren. »Auf keinen Fall! Ganz bestimmt nicht. Es ist völlig anders, als Sie denken …« Erst zögerte sie, den wahren Grund zu nennen, aber dann gab sie sich einen Ruck. »So lange dauert es, bis ich meine Schulden bei Jensen abgearbeitet habe. Er hat mir das Geld für die Überfahrt geliehen, nachdem man mir in Hamburg fast mein ganzes Geld gestohlen hatte. Es tut mir aufrichtig leid, aber ich kann Sie nicht mehr besuchen. Wie oft habe ich an den harmonischen Nachmittag bei Ihnen gedacht.«
»Nun, dann will ich auch nicht weiter in Sie dringen. Aber sollten Sie irgendwann genug haben von diesem Ausbeuter, dann können Sie jederzeit zu mir kommen und bei mir wohnen. Sie wissen, ich habe Platz genug.«
Im Mai begann die Regenzeit. Oft war gegen ein Uhr mittags nur von fern ein Grollen zu hören, dann zogen Wolken auf, die die Gipfel der drei großen Vulkane rings um San José verhüllten. Die Wolken wurden dichter und dunkler und zogen weiter in Richtung Pazifik. Etwa eine Stunde später fiel schnurgerader Regen in solcher Dichte, wie Dorothea es zuvor nur an Gewittertagen in Köln erlebt hatte. Dabei kühlte die Luft erstaunlicherweise kaum ab. Die Temperatur blieb nahezu konstant. Manchmal hielt der Regen nur kurz, manchmal bis zu sechs Stunden lang an. Manchmal begann er um zwei Uhr nachmittags, dann wieder erst nach Einbruch der Dunkelheit. Gelegentlich wurden die Wolkenbrüche von grellen Blitzen und gewaltigem Donner begleitet. Und immer verwandelte der Regen die Straßen in matschige Pfade. Wenn Dorothea dann vom Laden nach Hause lief, raffte sie den Rock, damit sich der Saum nicht mit Schlamm vollsog. Ihr einziges Paar Lederstiefeletten stopfte sie danach mit altem Zeitungspapier aus, damit es am nächsten Morgen wieder trocken war.
Fast jeden Nachmittag kam der junge Schweizer Uhrmacher in den Laden. Dorothea freute sich schon auf die ungezwungene Unterhaltung mit dem netten und zurückhaltenden Urs Keller, neckte ihn, wenn er vergessen hatte, was er kaufen wollte, lachte, wenn er wortreich und voller Selbstironie von seinen ersten Reitversuchen erzählte, bei denen er mehrere Male vom Pferd gefallen war.
»Bitte, Señorita Fassbender, wollen Sie am nächsten Samstag nicht zum Tanzabend in unserer Siedlung kommen? Wir freuen uns immer über Gäste, zumal wenn Sie so charmant und hübsch sind wie Sie.«
Auch diesmal lehnte Dorothea die Einladung mit einer Ausrede und einem Lächeln ab. Weil sie nur die Kleidung besaß, die sie jeden Tag im Laden trug, und weil sie Angst hatte, von Fremden über ihr Leben ausgefragt zu werden.
Sie zählte die Tage, die sie noch bei Jensen arbeiten musste, und jeden Abend, wenn sie sich schlafen legte, empfand sie stillen Stolz, einen weiteren Tag geschafft zu haben. Mit Johanna Miller hatte sie besprochen, sich eine Stelle als Hauslehrerin zu suchen. Die Schweizerin kannte viele Ticos und Ticas aus der Zeit, als sie noch ihr Geschäft besaß und die Damen der Gesellschaft sich Hüte hatten anfertigen lassen. Dorothea träumte von einer sauberen Kammer mit einem behaglichen Bett, mit Schrank und Spiegel. Wenn sie erst einmal Geld verdiente, könnte sie sich Zeichenmaterial, neue Schuhe und auch ein Kleid kaufen. Oder besser zwei, damit sie etwas zum Wechseln hatte. Und sie würde Elisabeth am Pazifik besuchen und mit ihr bis in die Nacht hinein
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