Das Land zwischen den Meeren
Sonnenuntergänge wir schon zusammen beobachtet haben. In der vergangenen Woche gab es hier an der Küste ein schweres Erdbeben, bei dem glücklicherweise niemand zu Schaden kam.
Kürzlich hatte Diego in Guaitil auf Guanacaste zu tun, und ich habe ihn begleitet. Ich habe dort Indianerinnen getroffen, die nach alten Vorbildern wunderschöne Töpferwaren herstellen. Diego hat mir einige Vasen und Schalen geschenkt, weil sie mir so gut gefielen. Er ist der großzügigste Mensch, den Du Dir vorstellen kannst, außerdem kultiviert und gebildet. Gestern hat er mir einen Heiratsantrag gemacht. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Schließlich ist Diego fast dreißig Jahre älter als ich. Ich mag ihn, er schenkt mir Geborgenheit, aber eigentlich fühle ich mich für die Ehe noch zu jung. Ich habe ihn gebeten, mir etwas Zeit zu lassen, um darüber nachzudenken. Ach, wenn Du doch bei mir wärst! Dann könnten wir über alles reden.
Ich muss Schluss machen. Diego will mit mir einen Ausritt zu den roten Aras unternehmen. Ich umarme Dich vielmals. Servus und Busserl. Deine Elisabeth.
Dorothea sah die Freundin im Geist vor sich. Ihr spitzbübisches Lächeln, die dunklen Augen und Haare, die immer schwarz gekleidete schmale Gestalt mit dem kessen, leuchtend roten Hut. Zumindest kannte Dorothea jetzt Elisabeths Adresse, und sie beschloss, ihr noch am gleichen Abend zu antworten. Von nun an war sie nicht mehr ganz so allein. Sie würden sich regelmäßig Briefe schreiben, und das wäre dann fast so, als sähen sie einander.
Kurz vor Ostern ging Jensen wieder auf Reisen. Er nannte weder das Ziel noch die Dauer seines Fernbleibens. Dorothea fühlte sich beschwingt und genoss die Zeit, in der sie allein im Laden schalten und walten konnte. Manchmal stellte sie sich vor, aus freien Stücken als Verkäuferin zu arbeiten und nicht, um Schulden zu tilgen. Die Tätigkeit hätte ihr sogar gefallen, aber dann gab es Momente, da sie die Schüler vermisste, ihre leuchtenden Augen, wenn sie ihnen vorlas oder wenn sie etwas Kompliziertes verstanden hatten, ihre neugierigen Fragen, ja, selbst ihre schlechte Laune oder Streitereien.
Dorothea hatte bereits die Ladentür abgeschlossen und war dabei, das Geld in der Kasse nachzuzählen, als sie von draußen ein polterndes Geräusch hörte. Durch den Glaseinsatz in der Tür erkannte sie, dass es Jensen war. Sie öffnete, und der Kaufmann stolperte herein. Sein sonst so akkurates Äußeres wirkte derangiert. Er hielt einen zerdrückten Zylinder in der Hand, das Haar hing ihm wirr ins Gesicht, die Weste unter seinem Rock war schief geknöpft. Dorothea roch Alkohol.
Lallend torkelte Jensen zur Kasse, zerrte die Kassette mit dem Geld heraus und kippte den Inhalt auf dem Ladentisch aus. Mit glasigen Augen stierte er Dorothea an, murmelte unverständliche Laute und wischte mit dem Ärmel alles Geld von der Theke. Bei dem Versuch, gegen ein Tischbein zu treten, geriet er aus dem Gleichgewicht. Er setzte sich rücklings auf eine geschnitzte Truhe und kippte hintenüber. Dabei ging eine Bodenvase zu Bruch. Jensen rappelte sich auf, griff nach einem Bugholzstuhl und zertrümmerte ihn auf den Fliesen.
Wortlos und wie erstarrt beobachtete Dorothea das gespenstische Szenario. Dann rannte sie voller Angst zur Tür hinaus. Jensen war nicht verletzt, das jedenfalls hatte sie gesehen. Also war es nicht nötig, Hilfe zu holen und auf die Lage des Betrunkenen aufmerksam zu machen. Das wäre ihm im nüchternen Zustand sicherlich peinlich gewesen und hätte abermals seinen Zorn erregt. Noch beim Abendessen zitterte Dorothea am ganzen Leib. In der Nacht konnte sie schlecht schlafen, denn sie fürchtete sich vor dem Wiedersehen mit ihrem Dienstherrn. Sollte sie einfach davonlaufen? Doch bevor sie sich diesen verlockenden Gedanken weiter ausmalen konnte, fiel ihr ein, dass sie noch für mehrere Monate eine Schuld abzutragen hatte. Sie war Jensen gegenüber in der Pflicht.
Mit klopfendem Herzen betrat sie am nächsten Morgen den Laden. Zu ihrer Überraschung war das Geschäft blitzblank sauber und aufgeräumt. Nichts erinnerte an das vorabendliche Chaos. Jensen begrüßte sie zuvorkommend und war den ganzen Tag über die Höflichkeit in Person.
»Was haben Sie über die Ostertage vor, Señorita Fassbender? Hätten Sie Lust, mich auf eine Tasse Tee zu besuchen? Ich würde mich freuen, wieder einmal jemanden zum Plaudern zu haben. Es ist recht einsam geworden, seitdem mein Mann gestorben ist. Ach ja … mein Eau de Cologne
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