Das Land zwischen den Meeren
nicht anmerken lassen. Jensen trat zur Seite und machte sich, als wäre nichts vorgefallen, an einem der Weinregale zu schaffen. Zwei junge Schweizer Uhrmacher, beide um die dreißig Jahre alt, waren in das Geschäft gekommen und fragten nach Büttenbriefpapier mit passenden Umschlägen.
»Es tut mir leid, aber das haben wir nicht vorrätig. Soll ich eine Notiz machen, damit Herr Jensen es mit der nächsten Lieferung in Deutschland bestellt? Es wird allerdings einige Monate dauern.«
Der größere der beiden, ein schlanker rothaariger Mann mit Backenbart und sommersprossigem Gesicht, verbeugte sich leicht. »Das wäre sehr freundlich, mein Fräulein. Wir haben es nicht eilig. Wir sind Schweizer.« Er stutzte, musste dann aber über seine eigenen Worte lachen, und Dorothea stimmte mit ein. »Übrigens, mein Name ist Keller, Urs Keller. Am nächsten Wochenende begehen wir den zweiten Jahrestag unserer Ankunft in Costa Rica. Mein Freund und ich wollten Sie fragen, ob Sie mit uns feiern wollen. Es wird lustig zugehen.«
Die Männer wirkten durchaus sympathisch und höflich. Jede andere junge Frau hätte sich von einer solchen Einladung geschmeichelt gefühlt, Dorothea aber schüttelte den Kopf. Nein, ihr war nicht nach Gesellschaft zumute. Eher danach, sich in die Stille und Einsamkeit ihrer Kammer zurückzuziehen und ihren Gedanken nachzuhängen. Pläne für die Zukunft zu schmieden.
»Vielen Dank. Aber ich habe bereits eine andere Verabredung.«
Die Enttäuschung stand den beiden jungen Männern ins Gesicht geschrieben. »Dann müssen Sie aber unbedingt einmal zum Tanzabend kommen. Jeden ersten Samstag im Monat wird bei uns in der Gemeinde musiziert. Es wird Ihnen bestimmt gefallen.«
Dorothea lächelte, auch wenn sie sich mit einem Mal verloren und traurig fühlte. »Ja, vielleicht. Kann ich sonst noch etwas für die Herren tun?«
»Ich brauche Stoff für eine Weste«, erklärte der junge Uhrmacher. »Robust soll er sein, aber gleichzeitig geschmeidig. Etwas für jeden Tag und elegant genug für besondere Anlässe. Er soll nicht blass machen, aber auch nicht aufdringlich wirken.«
Dorothea hatte gar nicht bemerkt, dass Jensen ihr vom Lager in den Verkaufsraum gefolgt war. Er wirkte ungeduldig und gereizt. »Ich bediene den Herrn weiter. Sie haben heute einen freien Nachmittag, Fräulein Fassbender. Bis morgen also. Adiós.«
Dorothea starrte ihren Dienstherrn ungläubig an. Doch dann holte sie rasch ihren Hut und verließ das Geschäft, bevor seine Laune wieder umschlug und er es sich anders überlegte.
In der zweiten Januarwoche fand im Laden Inventur statt. Dorothea trug sämtliche vorhandenen Waren ins Jahresbuch 1849 ein. Wenn sie tagsüber viele Kunden zu bedienen hatte und die Listen nicht vervollständigen konnte, musste sie abends länger bleiben. Das jedenfalls verlangte Jensen von ihr und zog sich derweil in seine Wohnung im oberen Stockwerk zurück. Nach einem solchen Arbeitstag fiel sie todmüde ins Bett, zählte die Wochen, in denen sie noch ihre Schulden abarbeiten musste, und schwor sich, durchzuhalten und keinerlei Schwäche zu zeigen.
Eines Morgens kam ein Brief an, adressiert an Fräulein Dorothea Fassbender, Gemischtwarenladen Jensen, San José. Elisabeth hatte ihr geschrieben. Dorothea konnte die Mittagspause kaum erwarten. Endlich würde sie erfahren, wie es der Freundin in der Zwischenzeit ergangen war und wo sie sich aufhielt. Mit fahrigen Händen öffnete sie den Umschlag. Ihre Blicke hasteten über die Zeilen, die in schwungvoller Handschrift und mit dunkelroter Tinte verfasst waren.
Meine allerliebste Dorothea! Ich bin so gespannt, was Dir seit unserem Abschied widerfahren ist. Hast Du es gut getroffen in San José? Ich warte sehnsüchtig auf Post von Dir. Meine Adresse lautet: Pension Santa Elena in Jaco.
Costa Rica ist ein großartiges Land mit unglaublich liebenswerten Menschen. Welch ein Glück, dass es uns ausgerechnet hierher verschlagen hat! Aber jetzt muss ich Dir unbedingt von Diego berichten. Ich habe ihn vor zwei Monaten kennengelernt. Er stammt aus Chile und lebt schon seit dreiundzwanzig Jahren hier. Diego ist mittelgroß und schlank, hat schwarzgraue Haare und kann auf verführerischste Art lächeln. Er ist Arzt, hat aber vor einem Jahr seine Praxis in San José aufgegeben, weil er mehr Zeit fürs Reisen haben möchte. Wenn ich in seinem Haus auf der Veranda sitze, blicke ich unmittelbar aufs Meer. Du kannst Dir nicht vorstellen, welch atemberaubende
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