Das Land zwischen den Meeren
sind Sie spätestens um vier Uhr nachmittags fertig und haben noch den ganzen Sonntag vor sich.«
Den ganzen Sonntag … Das ist doch der reinste Hohn!, wollte Dorothea ihm entgegenrufen. Die Umsätze sind um mehr als die Hälfte gestiegen, und das liegt ja wohl auch an mir, und zum Dank dafür soll ich noch mehr arbeiten? Sie presste die Lippen aufeinander, um ihren Zorn zu dämpfen. Wenn sie erst gegen vier Uhr fertig wäre, blieben ihr kaum mehr als zwei Stunden Freizeit bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann könnte sie auch die Schweizerin nicht mehr besuchen, denn für die Kutschfahrt musste sie anderthalb Stunden hin und zurück rechnen. Womöglich hatte Jensen bereits herausgefunden, wo sie am Vortag gewesen war, und versuchte auf diese Weise, ihre Bekanntschaft zu unterbinden.
»Es gibt Gesetze, die die Arbeitszeiten regeln, auch in Costa Rica.« Sie wusste nicht, ob das tatsächlich stimmte, aber um Jensen die Stirn zu bieten, musste sie bluffen.
Der Kaufmann hob überrascht die Brauen, und sein Mund verzog sich zu einem überheblichen Grinsen. »Ach, tatsächlich? Ja, dann gehen Sie doch zur Polizei und beschweren sich. Von mir aus auch zum Justizministerium. Oder warum nicht gleich zu unserem Präsidenten José Maria Castro Madriz? Und wissen Sie, was dann passieren wird, Fräulein Fassbender? Man wird Ihnen nicht zuhören. Niemand wird Ihnen zuhören. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, hä? Sie haben keine Papiere, keine Aufenthaltsgenehmigung. Sie sind ein Nichts.«
Dorothea biss sich auf die Lippen. Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Jensen war noch im Besitz ihrer sämtlichen Papiere, die er nach der Ankunft in der Capitana so überraschend an sich genommen und dabei Fürsorglichkeit vorgetäuscht hatte. Vermutlich schon damals in der Absicht, sie gegebenenfalls als Druckmittel zu verwenden.
Als am Nachmittag der freundliche Schweizer Uhrmacher Seife und Rasierschaum einkaufte, schöpfte sie kurz Hoffnung. In beiläufigem Ton fragte sie, ob er wisse, was Angestellte ohne Papiere gegen ihren Dienstherrn unternehmen könnten. »Es geht um eine weitläufige Bekannte«, setzte sie rasch hinzu, als sie den erstaunten Gesichtsausdruck des Kunden bemerkte.
»Also, wir hatten erst kürzlich einen solchen Fall in unserer Gemeinde. Die costaricanischen Richter urteilen sehr streng. Wer sich in diesem Land nicht ausweisen kann, hat auch keine Rechte. Ich fürchte, für die Dame sieht es schlecht aus.«
Trotz dieser entmutigenden Auskunft wollte Dorothea sich noch nicht geschlagen geben. Als Jensen das nächste Mal wie der auf Reisen ging, fasste sie einen Entschluss. Sie musste die Papiere finden. Dann jedenfalls wäre sie nicht mehr erpressbar. Wenn gerade keine Kundschaft im Laden war, schlüpfte sie ins Bureau und durchsuchte die Schreibtischschubladen, nahm sämtliche Rechnungsbücher und Bestellordner zur Hand und blätterte sie Seite für Seite durch, immer darauf bedacht, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Suchte in Schachteln und Kästen und sogar hoch oben auf den Regalen. Nichts. Also mussten die Dokumente in Jensens Wohnung aufbewahrt sein.
Als am Abend der letzte Kunde gegangen war und sie die Ladentür abgeschlossen hatte, stieg sie auf Zehenspitzen die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Das persönliche Reich ihres Dienstherrn hatte sie noch nie betreten. Mit klopfendem Herzen stand sie vor der hellgelb lackierten Wohnungstür, auf der in deutscher Sprache Tritt ein, bring Glück herein! zu lesen war . Sie streckte die Hand aus, hielt in letzter Sekunde inne. Dann zog sie ein Taschentuch aus der Rocktasche, wickelte es sich um die Hand und drückte langsam und mit angehaltenem Atem die Klinke herunter. Nichts. Die Tür war verschlossen.
Sie biss sich auf die Lippen, wollte laut aufschluchzen. Bitter enttäuscht zerknüllte sie das Taschentuch und stopfte es wütend in die Rocktasche. Nein, sie hatte nicht die geringste Aussicht, Jensen Paroli zu bieten. Musste sich notgedrungen seinen Anordnungen fügen. Nur noch sechs Monate lang. Bis zum dreizehnten Oktober, ihrem letzten Arbeitstag. Sie würde eisern durchhalten. Jetzt erst recht! Weil sie danach endgültig frei wäre und ein neues Leben beginnen könnte. Jensen hatte ihr zwar die Dokumente genommen, nicht aber ihre Hoffnung. Gleich nach dem Abendessen begann sie mit ihrem Antwortbrief an Elisabeth und schrieb sich allen Kummer von der Seele. Danach fühlte sie sich besser.
»Wie, Sie haben keinen einzigen freien Tag
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