Das Land zwischen den Meeren
erzählen, wie sie es an milden Abenden auf dem Schiff so oft getan hatten. Rosige Zeiten lagen vor ihr, und beim Abendgebet dankte sie der Gottesmutter, dass ihr die Kraft zum Ausharren geschenkt wurde.
Am Morgen des dreizehnten Oktober erwachte Dorothea frohen Herzens in ihrem harten, schmalen Bett. Sie richtete sich auf und blickte sich um, lächelte milde über die Kakerlaken, die in der breiten Ritze zwischen Boden und Wand entlangliefen und in einem Loch unterhalb des Fensters verschwanden. Diese kahlen, abweisenden vier Wände wären bald nur noch eine blasse Erinnerung. Manchmal hatte sie sich gefragt, warum Mercedes so rasch auf Jensens Forderung eingegangen war, seine Angestellte für ein Jahr zu beherbergen. War die Argentinierin ihm einen Gefallen schuldig? Oder hatte das Geld sie bewogen, so ohne Weiteres zuzustimmen? Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, er war für Dorothea nicht mehr wichtig. Denn vierundzwanzig Stunden später würde sie bei Johanna Miller das Gästezimmer beziehen und sich unverzüglich um eine Anstellung kümmern.
»Sagen Sie das noch einmal!«
»Heute ist mein letzter Arbeitstag. Das Jahr ist vorüber.« Ruhig und gelassen stand Dorothea vor Erik Jensen, verspürte weder Herzklopfen noch ein ungutes Gefühl, nur Erleichterung und Vorfreude auf den Beginn eines neuen Lebens.
»Das muss ein Missverständnis sein.«
»Keineswegs. Ein Jahr Arbeit in Ihrem Laden für die Passage auf der Kaiser Ferdinand sowie Kost und Logis bei Mercedes Castro Ibarra. Jetzt sind wir quitt.«
»Aber mein liebes Fräulein Fassbender …« Der Kaufmann zog jede Silbe in die Länge, sein Tonfall wurde mitleidig, und nun verspürte Dorothea doch ein leises Unwohlsein. Jensens nachsichtiges Lächeln verwirrte sie – es verhieß bestimmt nichts Gutes.
»Erinnern Sie sich nicht mehr, dass ich Ihnen von den Schwierigkeiten erzählte, die letzte freie Koje auf dem Schiff zu bekommen? Ein Priester, der zu einer Missionsstation an der Grenze zu Nicaragua reisen wollte, hatte bereits die letzte Bordkarte reserviert. Wie konnte ich ihn Ihrer Meinung nach wohl überzeugen, zu einem späteren Zeitpunkt zu reisen? Etwa dadurch, dass ich zehnmal das Vaterunser sprach?«
Dorothea spürte, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte. Nein, es durfte nichts mehr dazwischenkommen! Sie war doch am Ziel! Endlich, nach einem Jahr harter Arbeit und ständigen Verzichtes. Die Kehle wurde ihr eng. »Ich verstehe nicht …«
»Wirklich nicht?« Erik Jensen verdrehte die Augen und wirkte geradezu belustigt. »Dann sage ich es klipp und klar. Ich musste den frommen Mann bestechen. Fünfzehn Taler habe ich ihm gegeben. Und glauben Sie mir, er hatte zunächst weitaus mehr verlangt. Folglich schulden Sie mir noch zwei weitere Monate Arbeit.«
In diesem Moment hätte Dorothea am liebsten laut aufgeschrien. Sich auf Jensen gestürzt und ihm die Augen ausgekratzt. Er hatte sie schamlos hintergangen. Ihre Hoffnung, ihre Zukunft zerstört. So durfte er nicht mit ihr umgehen! So nicht! Tränen der Wut, Enttäuschung und Verzweiflung stiegen in ihr auf. Ohne Antwort ließ sie Jensen stehen und rannte aus dem Laden, hastete durch die Straßen. Ihre Geduld war am Ende. Sie wollte sich nicht länger hinhalten lassen, sondern endlich das tun, was sie schon viel früher hätte tun sollen. Davonlaufen nämlich.
»Na, meine Süße, wollen wir beide einen Guaro trinken?« Jemand zerrte Dorothea am Arm. Der Mann trug Matrosenkleidung und versuchte, sie in den Eingang einer Bodega zu drängen. Als sie seine Alkoholfahne roch, wurde ihr übel. Angewidert schüttelte sie den Betrunkenen ab und dachte weiterhin fieberhaft nach. Es musste doch eine Möglichkeit geben, gegen Jensens Hinterlist anzugehen … Ob Johanna Miller ihr helfen konnte?
Doch nein, wie zahlreich die Verbindungen der Schweizerin auch sein mochten, sie nutzten Dorothea wenig. Kein Dienstherr stellte eine Hauslehrerin ohne Papiere ein. Damit machte er sich nur selbst strafbar. Und so blieb Dorothea nichts als die bittere Erkenntnis, dass sie Jensens Sklavin war, seiner Willkür auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mit hängendem Kopf schlich sie zurück in die Avenida Simón Bolívar, ballte die Hand zur Faust und vergrub sie in ihrer Rocktasche.
»Herr Jensen, ich verlange eine schriftliche Bestätigung, dass ich am dreizehnten Dezember dieses Jahres meine Schulden getilgt habe, meine persönlichen Dokumente zurückerhalte und ohne weitere Verpflichtungen
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