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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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auf Papier lässt sich so etwas nicht wiedergeben –, dass Robert und Caroline Goodwin beide gleichzeitig reden.
    Robert Goodwin hat sich von seinem Leiden inzwischen gut erholt. Nachdem er von dem Zuckerrohrfeld nach Hause gebracht worden war, hatte ihn eine Krankheit ans Bett gefesselt. Lange Wochen lag er dort zusammengerollt wie ein Farnwedel. Sprach mit niemandem und öffnete nicht einmal die Augen, um sich umzusehen. Nahm keine Nahrung zu sich und keinen Schluck von dem Wasser, das man ihm darreichte. Der Arzt konnte keine tödliche Krankheit an ihm entdecken – kein Gelbfieder, kein Denguefieber, keine Malaria und auch keinen Schlangenbiss. Dennoch warnte der Arzt Caroline, wenn Robert weiterhin keine Flüssigkeit zu sich nehme, werde der Tod ihn dahinraffen.
    Doch sosehr Caroline ihn drängte und ihm mit dem Zeigefinger drohte – »Trink oder stirb« –, sosehr sie mit dem Fuß aufstampfte, jammerte, die Faust gegen seine Unvernunft schüttelte oder ihm über die Stirn strich und ihn bat: »Flüster mir zu, Robert, flüster mir zu, was dir fehlt, und ich mache alles gut«, er blieb unempfänglich. Sie wachte bei ihm Tag und Nacht und drückte ihm einen feuchten Schwamm an die Lippen. Doch seine blauen Augen sanken ins Dunkel ihrer Höhlen, und hinter seinem Gesicht zeichneten sich allmählich die Knochen seines Schädels ab. Sie wehklagte, sie fiel auf die Knie, um ihn zum Leben zu überreden, sie schüttelte ihn sogar – obwohl sie beim Anblick seines geschwächten, abgemagerten Oberkörpers beinahe selbst ohnmächtig geworden wäre.
    Dann, eines Nachmittags, war vor dem Fenster der Schrei eines Babys zu hören, und plötzlich war Robert Goodwin munter genug, um die Augen dem Geräusch zuzudrehen. Keine Stunde verging, da hatte ihm Caroline auch schon seine Emily gebracht. Sie legte ihm den nackten Säugling aufs Kopfkissen. Zuerst regte sich Robert nicht, doch als das Wurm sich zu ihm
beugte, um mit seinem winzigen Fäustchen eine Handvoll Haar zu greifen, hätte er fast gelächelt. Er hob die Hand, um die Finger der Kleinen behutsam in seine zu nehmen. Aber sie wollte seine Haare nicht loslassen. Caroline musste sie vom Kopfkissen aufheben. Und als sie hochgenommen wurde, hampelte und strampelte sie so sehr, dass er die Hand an die Lippen legte, um sie zu beruhigen. Als sie aus dem Zimmer gebracht wurde, winkte er ihr machtlos nach.
    Hiernach nahm er Wasser zu sich. Lutschte an einer Mango, und als er den ersten kleinen Bissen Perlhuhn zerkaute, war Caroline fest davon überzeugt, ihn wieder gesund machen zu können. Er erinnerte sie an das Kätzchen, das sie viele Jahre zuvor in London aufgelesen hatte. »Irgendein Rohling hatte es ertränken wollen, und es war dünn wie ein Pfeifenreiniger«, erzählte sie ihm, als sie ihm vorsichtig einen Löffel Fleischbrühe einflößte. »Edmund sagte, es würde bestimmt verenden. Aber unter meiner Pflege wuchs und gedieh es.« Allerdings verriet sie ihm nicht, dass sie das Kätzchen so überfüttert hatte, dass es wenige Monate später starb, eine große, runde Pelzkugel vor einer unangetasteten Schale ranzigen Rahms.
    Caroline ließ niemanden in die Nähe ihres Patienten. Nur sie durfte ihm zu essen geben, nur sie sein Gewicht auf ihre Schulter nehmen, um mit ihm im Zimmer auf und ab zu gehen. Als er wieder zu Kräften gekommen war, sprachen Besucher vor, und Caroline lauerte ihnen an der Tür zum Krankenzimmer auf und trichterte ihnen Verhaltensmaßregeln ein. Jedes Mal dürfe nur ein Besucher das Zimmer betreten: »Nähern Sie sich ihm nur bis zum Fußende des Bettes; unterstehen Sie sich, ihm zu viele Fragen zu stellen, aber gratulieren Sie ihm von Herzen, wie sehr es ihm schon besser zu gehen scheint. Und reden Sie nie, nie, nie, unter keinen Umständen, von Negern – denn nichts darf ihn aufregen.«
    Und in der Tat machte seine Genesung in ihrer Obhut rasche Fortschritte – mit jedem Tag wurde er kräftiger und
zufriedener. Bis George Sadler von Windsor Hall ihm einen Besuch abstattete. Kaum hatte Caroline das Zimmer verlassen, rückte George Sadler entgegen allen Anweisungen einen Stuhl heran, um sich dicht neben Robert Goodwin zu setzen. Er wollte ihm von der neuen Idee berichten, die den Plantagenbesitzern der Gemeinde gekommen war – eine Idee, die alle Probleme, die sie mit den arbeitsscheuen, untauglichen und lästigen Negern hatten, lösen und dafür sorgen würde, dass ihre Plantagen wieder Gewinn abwarfen. Als George Sadler das Zimmer

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