Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
Vom Netzwerk:
Atemzug und atmete erst wieder aus, als der dumme, dumme Junge den Servierteller vor Robert Goodwin auf den Tisch gestellt hatte. Der Massa wandte den Kopf nach Elias und fragte ihn: »Was ist das, Junge?« Ohne zu antworten, rannte Elias aus dem Zimmer.
    Robert Goodwin sagte: »Ja, ja, Caroline, ich habe dir zugehört, als du mir das letzte Mal von deiner Schiffsreise erzählt hast.« Dann legte er die Hand auf den Griff des Serviertellerdeckels und lüftete diesen. Von ihrem Dunkel befreit, huschten plötzlich tausend schwarze Schaben hervor. Als würde Spülwasser überschwappen, schwärmten sie über die Tischplatte und fielen pitsch-patsch vom Tisch auf den hölzernen Fußboden. Einige purzelten ihm in den Schoß. Robert Goodwin war zu benommen, um ihr Gekrabbel zu spüren. Er saß da und starrte wie gebannt auf den grausigen Berg zerdrückter toter Schaben, die sich auf dem Servierteller türmten. Es dauerte eine Weile, bis er zu schreien begann. Dann aber sprang er auf,
hüpfte umher, schlug sich auf Schoß und Brust, klatschte sich auf Arme und Gesicht, und aus seinem Mund löste sich der jammervolle Schrei eines unter Schmerzen verendenden Esels. Caroline stand auf ihrem Stuhl und kreischte.
    July, die die hektische Szene durch den Spalt in der Speisezimmertür beobachtete, hatte gehofft, der Anblick würde sie zum Lächeln bringen, vielleicht sogar zum Lachen, und ärgerte sich, dass dem nicht so war.

DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    Geneigter Leser, muss ich dir wirklich all das Tamtam und Trara vorführen, das veranstaltet wurde, als der Massa und die Missus der Plantage mit Namen Amity von dieser karibischen Insel Abschied nahmen? Willst du wirklich hören, wie Caroline Goodwin zum letzten Mal in dieser Geschichte quiekte, als sie Anordnungen traf, wie ihr Hab und Gut auf der Kutsche verstaut werden solle? »Byron, gib acht, gib gut acht, Junge, das ist sehr wertvoll … Langsamer, Elias, nicht rennen … Robert, wo steckst du? Elias, wo ist dein Herr?«
    Oder sollen wir die Szene überspringen und uns einem ruhigeren Ort zuwenden? Wo unsere July in einiger Entfernung vom Garten im kühlenden Schatten eines Baumes sitzt und frohen Auges die ganze Aufregung verfolgt? Denn »Marguerite! Marguerite!« – dieser Ruf erging nicht mehr.
    Anfangs hatte July freundlich darum gebeten, Robert Goodwin in seinem Krankenbett pflegen zu dürfen. Sie hatte die Missus sanft beschworen. Danach hatte sie sie regelrecht angefleht. Schließlich musste sie auf die Knie fallen, ihrer Missus die Zehen in den Pantoffeln küssen und sie anbetteln. Insgesamt sieben Mal trug July ihr Anliegen vor (oder, falls du Caroline Goodwins Darstellung ihrer Gesuche Glauben schenkst,Woche um Woche jede Minute des Tages und jede der Nacht).
    »Er darf keine Negerinnen sehen«, hatte die Missus ihr erwidert.
    Und July hatte sie korrigiert: »Bin keine Negerin nich’, bin ’ne Mulattin.« Vor lauter Verwirrung hatte die Missus die Stirn
gerunzelt und entgegnet: »Ach, wer in aller Welt schert sich um solche Albernheiten? Du bist immer noch eine Negerin, und es sind die Neger, die ihn auf dem Gewissen haben. Du kommst mir nicht in seine Nähe, Marguerite. Er will dich nicht sehen. Er will, dass du dich von ihm fernhältst. Hast du mich verstanden?«
    Dann hatte die Missus Joseph damit betraut, die einzige unverriegelte Tür zum Herrenhaus zu bewachen. Sein alleiniger Befehl lautete, July fortzuscheuchen – sie zu verjagen, sie unter Verwünschungen anzuschreien, dass der Massa sie nicht zu sehen wünsche.
    Nur wenn es ihr gelungen war, sich still in den Keller des Hauses zu schleichen, konnte July in Robert Goodwins Nähe weilen. Denn dort konnte sie ihn in seinem Zimmer über ihr hören.Wenn sie den Atem anhielt, konnte sie spüren, wie er sich unruhig in seinem Bett wälzte.Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie ihn seufzen hören, wie er gelangweilt aus dem Fenster starrte. Oft drang seine gedämpfte Stimme zu ihr herab, jedoch zu undeutlich, als dass es sich gelohnt hätte, die Ohren zu spitzen. Manchmal aber, des Nachts, knatterte sein hallendes Schnarchen so laut, als läge er neben ihr.
    Als sie eines Abends dasaß, Emily stillte und ihr dabei leise vorsang: »Mama gon’ rock, mama gon’ hold, little girl-child mine«, perlte sein Lachen durch die Zimmerdecke. »Papa«, sagte July zu Emily, die mit ihrem einen Zahn an ihrer Brust saugte. Die Schritte der Missus, die durch das Zimmer über ihr hopste, waren nichts

Weitere Kostenlose Bücher