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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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»Der Junge mit dem Triangel ist soeben aufgewacht.«
    Doch lass uns dem Beispiel der Geigenspieler folgen, geneigter Leser, und diesen Ort fliehen. Denn ich fürchte, du wirst es deiner Erzählerin nie verzeihen, dass sie dich dazu zwingt, dir das eitle Geschwätz einer so langweiligen Gesellschaft anzuhören. Müsstest du an diesem Tisch zum Essen bleiben, würdest du dich bald ebenso ermattet fühlen wie Caroline Mortimers Gäste. Nichts konnte ihr dieses Abendessen trüben – bis sie ein Stück von dem Teigdeckel abbrach, den Lucy und Florence auf
die Taubenpastete gelegt hatten. Lass uns also nach draußen gehen und nachsehen, was sich dort ereignet.
    Auf einem Streifen Land hinter der Küche – außer Sichtweite des Hauses und des Kontors, hinter einer Reihe von Süßorangenbäumen und von einem Zitronen- und Tamarindenbaum verdeckt, an der Stelle, wo die Hühner frei umherliefen, die Schweine und Ziegen aber angepflockt waren – hielten Sklaven eine lautstarke Versammlung ab. Ich muss mich korrigieren. Denn einige derjenigen, die sich hier zusammengefunden hatten, können inzwischen lesen. Und sollten sie sich zufälligerweise in diesem Buch als Sklaven bezeichnet sehen, werde ich Unannehmlichkeiten bekommen. Nein. Die lautstarke Versammlung bestand aus Hausdienern. Denn niemand in dieser hochherrschaftlichen Schar ließ sich gern daran erinnern, dass er in Wahrheit Hab und Gut von Weißen war.
    Die allerhübschesten Hausbediensteten, die in feine Tracht gekleidet waren – weißer Musselin für die Frauen, weiße Hosen für die Männer und modische Westen aus grünem und rotem Chintz für beide –, stammten, wundere dich darüber nicht, geneigter Leser, von der Plantage Prosperity.
    Als diese Gruppe benachbarter Neger den Streifen Land hinter der Küche betrat, wandten die Sklaven von Amity den Blick von der sinkenden Sonne ab, die über ihren Köpfen flammte, um stattdessen ihre in Schale geworfenen Gäste zu bewundern. July lief das Wasser im Mund zusammen, kamen sie ihr doch vor wie süßes Konfekt. Molly verzog natürlich geringschätzig den Mund. Hannah dagegen hatte den ihren weit aufgerissen beim Anblick der eins, zwei, drei… O Herr, warum nur sind so viele Hausdiener gekommen?
    Was sich folgendermaßen ergab: Der Massa von Prosperity und seine launische Frau konnten die kurze Entfernung nach Amity – die Stadtstraße entlang, die über den Hügel führte – nicht ohne einen Reitknecht auf sich nehmen, der ihren Landauer
lenkte. Ihr Reitknecht James war ein kleiner, gedrungener Kerl, der meilenweit wegen seines Talents geschätzt wurde, noch das kränkste Pferd durch Aderlass von allen Leiden zu kurieren. Obwohl die aufgeputzte Kutsche zur Eitelkeit ihres Besitzers passte, war sie für das Terrain jedoch nicht geeignet, denn sie hatte ein defektes Rad, auf das man ein Auge haben musste. Deshalb konnte James die Kutsche nicht ohne Begleitung seiner Boys lenken. Er brauchte Cecil und Sam, damit sie abstiegen, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen und hin und wieder die Schrauben des widerspenstigen Rades mit einem Hammer festzuklopfen.
    Ihr Massa hatte Gerüchte vernommen, dass die Straße, auf der sie reisen wollten, nach Einbruch der Dunkelheit nicht sicher sei, und Giles – seinem Sklaven, der einem durchgegangenen jungen Ochsen offenbar aus jeder beliebigen Entfernung zwischen die Augen schießen konnte – befohlen, im alten Ponywagen hinter dem Landauer herzufahren und sowohl eine Schrotflinte als auch einen dicken Knüppel bei sich zu tragen. Während der ganzen Fahrt nach Amity beschwerte sich Giles lauthals bei Bailey, dem einarmigen Kutscher des Wagens, er solle das »Scheißding« nicht so schaukeln lassen. Giles hatte Kopfweh. Die Tage zuvor hatte er bei einem Mummenschanz zugebracht; das Gesicht mit Lehm weiß gekalkt, war er auf Zehenspitzen umherstolziert, hatte hierhin und dorthin gedeutet und dabei in Nachahmung des Massas, der die Kupferkessel im Sudhaus inspizierte, gebellt: »Ist der Sud schon so weit? Ist der Sud schon so weit?«
    Obwohl jede Dienerin, die sie fragte, ihr antwortete: »Keine Ahnung, Missus. Ich wohn zu weit weg«, erkundigte sich Elizabeth Wyndham auch weiterhin bei ihren Sklaven nach der Bodenbeschaffenheit auf Amity. Stand der Erdboden dort voller Regenpfützen, aus denen Schlamm quoll, oder war er fest wie ein Holzfußboden? Zu guter Letzt musste Clara ihre Missus begleiten, um nicht nur ihre Glacé-, Satin- und Lederschuhe
zu tragen, sondern auch ihre

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