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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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die Lippen und mimte die Summe, ohne auf die Münzen zu blicken. Zum Glück war sein Haar bereits weiß, denn dieser Tag war anstrengend für Godfrey.Wo steckte nur Byron? Es war lange her, dass Godfrey ihn zum Wasserholen geschickt hatte, und der Junge war noch nicht zurückgekehrt. Und es musste noch der Tisch gedeckt werden, die Kerzen mussten aufgestellt, der Hof gefegt und die Hunde angebunden werden.
    Als July auftauchte und sagte: »Mr Godfrey, das Tuch, das Se mir gegeben ham, is’ aber ’n Betttuch, kein Tischtuch nich’«,
entgegnete er mit einer gleichgültigen Handbewegung: »Geh, leg’s auf ’n Tisch.«
    »Aber ’s is’ ’n Betttuch, Mr Godfrey.«
    »Woher weißt du das?«
    July hielt den Atem an. Sie gedachte, diese sehr einfache Frage zu beantworten – denn selbst ein Feldnigger besaß das Vermögen, den Unterschied zwischen einem feinen Leinentuch für den Tisch und einem schlichten Baumwolltuch für das Bett zu erkennen –, doch stattdessen begann sie zu lächeln, denn sie ahnte, was Godfrey im Schilde führte.
    »Miss July, das, was du da in der Hand hältst, is’ das ’n Betttuch? «, fragte er noch einmal.
    »Nein, Mr Godfrey, das is’ ’n feines Tischtuch«, antwortete July.
    »Dann geh und leg’s auf ’n Tisch«, sagte Godfrey zu ihr. In diesem Moment raste ein Schwein an ihm vorbei, das von einem Hund verfolgt wurde. »Warte, das Schwein is’ noch nich’ tot?«, rief er plötzlich. »Fangt das Schwein! Wo is’ Miss Patience? Fangt das Schwein!« Auf einmal war Patience da, bückte sich, breitete ihre Schürze aus und versuchte, das quiekende Schwein gegen die Küchenwände zu drängen. Während Hannah, eine Pfanne in der Hand, an der Küchentür stand und sagte: »Was, das Schwein is’ noch nich’ tot, Mr Godfrey?« Und Godfrey verscheuchte den Hund mit einem Fußtritt aus dem ganzen Kuddelmuddel und rief: »Byron, wo steckt der nur? Warum is’ das Schwein noch nich’ tot? Byron!«

ACHTES KAPITEL
    Caroline Mortimer war fest entschlossen: Nichts durfte ihr dieses Weihnachtsessen verderben. Mrs Pemberton aus Somerset Pen und ihre beiden Cousinen aus England hatten ihr die Nachricht zukommen lassen, sie seien nicht in der Lage, ihrer Einladung Folge zu leisten. Warum? Das sollte Caroline nie erfahren, denn der kleine Negerjunge, der ausgesandt worden war, hatte den Brief, der die kostbare Erklärung enthielt, in den Hosenbund gesteckt. Dann war der Bengel so weit und so schnell gerannt, dass sein Schweiß die Notiz in einen grauen Fleck verwandelt hatte, der sich immer weiter auf Mrs Pembertons feinem Briefpapier ausbreitete.
    »Was stand drin, Junge?«, fragte Caroline.
    Und in Gegenwart des anglikanischen Geistlichen, Reverend Pritchard, hatte John ihr eigentlich zu scharf geantwortet: »Ach, um Himmels willen, Caroline, sieh dir den schäbigen Wicht doch an, glaubst du etwa, der kann lesen?«
    Doch Caroline hatte seinen Vorwurf und den verlegenen Blick des Geistlichen mit einem Lachen abgetan. Als die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden war, hatten die erstaunlichen Rosatöne der Dämmerung den Himmel so gerötet, dass Henry Barrett, der langweilige alte Anwalt aus Unity, beim Schlürfen seines Whiskys (sein drittes Glas) innegehalten und bemerkt hatte, es habe den Anschein, als säßen sie alle unter einem Laken gefangen, das von dünnem Blut durchtränkt sei. »Aber einen schönen Ausblick haben Sie hier«, fügte er hinzu, als ihm endlich klar wurde, was für einen verheerenden Eindruck seine Bemerkung im Gemüt seiner Zuhörer
hinterlassen hatte. John, der sich daran erinnerte, dass es in der Nacht, als seine Frau Agnes verstorben war, einen ähnlichen Sonnenuntergang gegeben hatte, flüsterte laut in Carolines Ohr: »Verdammter Idiot.«
    Und ach, ach, ach! Godfrey hatte Caroline Mortimer auf ihre Frage hin nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei, vielleicht sogar drei Mal versichert, dass die Gruppe schwarzer Geiger, die dazu engagiert worden war, hübsche Melodien wie Whither My Love oder The Red, Red Rose zu spielen, auch Stille Nacht recht passabel darbieten könne. Godfrey hatte um einen zusätzlichen Shilling gebeten, damit er sie von einem Johnkankus-Mummenschanz in der Stadt fortlocken konnte. Doch der Radau, den sie veranstaltet hatten, als die Gäste ihre Schuhe wechselten, war nicht als Melodie zu erkennen gewesen. Während des gesamten Liedes schlug ein hässlicher Neger mit vorstehenden Zähnen dermaßen auf sein Tamburin ein, als wolle er

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