Das lange Lied eines Lebens
ihrer Wange zu trocknen begann, spürte sie, wie seine Hand diskret und den Blicken der anderen Gäste verborgen die Rückseite ihres
Rockes abtastete. An einem Saum nestelte, am Stoff zerrte, hin und her huschte wie ein winziges Nagetier, das ein dunkles Eckchen sucht. Bald fanden seine schweißigen Finger die Öffnung des Kleidungsstücks und gruben sich rasch hinein. Er legte seine Handfläche auf ihre nackten Hinterbacken, knetete ihre Haut und sagte dabei ruhig: »Na, was hast du da getrieben? Gestohlen, nicht wahr?«
»Nich’ gestohlen, Massa, nich’ gestohlen«, sagte July. Sein Zeigefinger hatte einen eingerissenen Nagel, der über ihre Haut kratzte, als er nach Löchern forschte, die er füllen könnte.
»Du bist eine kleine diebische Niggerin, nicht wahr?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Ach, lassen Sie sie gehen, damit die Damen endlich zu ihrem zweiten Gang kommen«, sagte Reverend Pritchard von der anderen Seite des Tisches.
»Erst wenn sie zugibt, dass sie eine Diebin ist«, sagte der Massa von Windsor Hall.
July verhielt sich so ruhig wie möglich unter dem Griff des weißen Mannes, denn die Finger seiner groben Hand zwickten und zwackten sie jetzt in die Hinterbacken. Doch mit einem Mal war von draußen heftiges Füßetrappeln zu hören.
Plötzlich schwangen die Saaltüren mit solcher Wucht auf, dass die meisten der heruntergebrannten Kerzen erloschen. Zwei Männer in den blauen Uniformen der Miliz stürzten in den Saal und brachten den Holzgeruch und Dunggestank der Nachtluft mit. July war überzeugt, dass die Männer gekommen waren, sie abzuführen – zum Stock oder zum Rad in Rodney Hall. Sie entwand sich dem Griff des weißen Mannes, und als er hastig die Hand unter ihrem Rock hervorzog, zerriss sein Fingernagel dessen hauchdünnen Saum.
July flitzte unter die Anrichte und umkrampfte mit den Armen ihr hölzernes Bein. Sie umschlang es so fest wie die Schlange, die in das Holz geschnitzt war, für den Fall, dass jemand Anstalten machte, sie zu ergreifen.
Aber es trat keiner auf sie zu. Sie blickten nicht einmal zu ihr her.
»Es gibt Ärger.« Eine tiefe, heisere Stimme richtete das Wort an alle am Tisch Anwesenden. »Eine Menge Ärger. Die Neger brennen Plantagen im Westen ab. Sämtliche Männer hier müssen sich zum Milizdienst melden.«
Sogleich begannen zahlreiche Füße an Julys Versteck vorbeizulaufen – klapperten vor ihr über die hölzernen Dielen. Tam Dewars derbe braune Stiefel waren schon zur Tür hinaus, gefolgt von den schlammigen schwarzen Schuhen der Männer von der Miliz. Die Füße des Massas von Unity, die in Hausschuhen steckten, tanzten an ihr vorüber, und er sagte: »Der Tag ist gekommen. Der Tag ist gekommen.« Byrons kleine nackte Füßchen kamen ins Zimmer gepatscht, gejagt von den vier Pfoten der bellenden Hündin, die gegen die Möbel schlitterte. Die Musik war verstummt.Verärgert wurden Namen gerufen: Clara, Giles, James, Bailey.Vor dem Fenster erschütterte Hufgetrappel von Pferden den Boden, und es knirschten Wagenräder.
Nur Julys Missus Caroline blieb am Tisch sitzen. Der Massa, der sich dicht vors Gesicht seiner Schwester gebeugt hatte, flüsterte ihr eindringlich zu, sie solle sich keine Sorgen machen; all dies werde bald wieder unter Kontrolle gebracht sein; sobald er könne, werde er zu ihr zurückkehren; und er wünsche, dass sie bis dahin im Haus bleibe. Ob sie ihn verstanden habe?, fragte er sie. Ja, vollkommen, lautete ihre entschlossene Antwort. »Die Neger werden dafür sorgen, dass dir nichts passiert«, sagte John Howarth zu ihr, bevor er ihr ein kleines Pistol in die Hand drückte und sie auf die Stirn küsste. »Wo ist denn nur Marguerite? «, fragte er. Und bevor July wusste, wie ihr geschah, erschien das besorgte Gesicht ihres Massas vor ihrem Versteck. »Marguerite, komm da raus«, sagte er und zog an Julys fadenscheinigem Rock. »Komm und kümmere dich um deine Herrin. Sie braucht dich.« Dann eilten seine Füße in fünf langen Schritten zur Tür.
Als July unter der Anrichte hervorgekrochen kam, hörte sie ihre Missus seufzen. July ging zu ihr, baute sich neben ihr auf und sagte: »Keine Angst, Missus, keine Angst. Ich bin doch da, Missus.«
Aber ihre Missus begann leise zu weinen. Dann hielt sie inne, wischte sich mit dem Rücken der Hand, die noch das Pistol umklammerte, über die triefende Nase und sagte: »Marguerite, das da auf dem Tisch ist ein Bettlaken, kein irisches Leinen. Mein Gott, bald wird Elizabeth Wyndham überall
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