Das lange Lied eines Lebens
Normalerweise hübschten sich hier nur weiße Haut und mitleidlose blaue Augen auf. July bestäubte sich das Gesicht mit der Puderquaste der Missus, nieste den Gestank aus der Nase, bevor sie vor dem verstohlenen Blick davonrannte, den der Spiegel ihr zuwarf.
Wäre dies ihr Haus, beschloss July, würde sie keinen Schrank haben, der so schrecklich hoch war, dass sie all die schönen Teller, die dort ausgestellt waren, nur mit Mühe betrachten konnte. Sie musste einen Stuhl aus dem Speisesaal herbeitragen und sich auf die Zehenspitzen stellen, um auch nur an das erste Brett zu gelangen. Sie würde diesen hübschen blau-weißen Teller griffbereit haben, damit sie sich jederzeit in die Geschichte hineinversetzen konnte, die auf ihm abgebildet war – mit den Vögeln davonfliegen, die sich über den Baum schwangen, der das Haus beschattete, das an der Brücke lag, die den Fluss überspannte, der das Boot trug. July trank aus einer der Tassen Luft und spreizte dabei den kleinen Finger ab, wie die Weißen es taten, wenn sie dieses himmlische Porzellan an ihre dünnen Lippen setzten.
Aber ach, July war erschöpft – all die Freiheit machte sie müde. Sie warf sich auf das Ruhebett ihrer Missus und rief: »Marguerite, komm und bring mir etwas Tee.« Ihre Stimme
hallte durch den Saal, fand aber niemanden, der dem Befehl gehorchte. »Marguerite, wo bleibt mein Tee?« Noch immer kam niemand. Sie seufzte. Ach schnauf, ach schnief – was für ein anstrengendes Leben hat man doch als weiße Dame auf dieser Insel.
Wie sie so mutterseelenallein ruhte, hörte sie plötzlich: »Ah, Miss July«, husthust, »zum Gruße.«
Sie biss beinahe die Vogeldekoration von dem kunstvollen Tässchen ab, so sehr hatte Nimrod sie erschreckt. Ihr kleiner Finger war noch abgespreizt, als Nimrod grinsend fortfuhr: »Was machst’n hier, Miss July?«
Nimrods weiße Weste war mit etwas Grünem beschmiert, und seine Hose hatte Rußabdrücke von seinen Händen. Und der Mann hatte solche O-Beine, dass July, als er vor ihr stand, durch sie hindurch die geschlossene Tür hinter ihm sehen konnte. Mit seinem Zahnlückengrinsen versuchte er, so etwas wie Charme auszustrahlen, es gelang ihm jedoch nicht – denn während sein eines Auge ihr fest ins Gesicht sah, wanderte das andere, wie es ihm beliebte, über ihren ganzen Körper hinweg. Aber immerhin, es war ein freier Mann, der sich da über sie beugte und bereit schien, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen. July setzte die Tasse ab, fixierte das Auge, dem man beibringen musste, geradeaus zu sehen, und sagte: »Tee, und zwar schnell.« Nimrod kratzte sich am Kopf und runzelte für den kürzesten aller Momente die Stirn, bevor die einsamen Zähne in seinem Mund erneut darangingen, sie mit einem Lächeln zu bezaubern. Dann machte er eine tiefe Verbeugung.
Messer, Gabel, Löffel und der blau-weiße Teller, mit denen Nimrod das Ende des Esstisches für July eingedeckt hatte, waren alle am richtigen Platz, aber bestrafen musste sie ihn trotzdem. Denn er war zu langsam. Er war ein dummer, fauler Nigger. Sie nahm den Löffel und schlug ihm damit auf den Kopf. Bei dem scharfen Schmerz jaulte er auf: »Autsch!«, dann versprach er ihr,
sich zu bessern. Und doch rückte er den Stuhl nicht weit genug vom Tisch ab, damit sie sich setzen konnte, noch schob er ihn nahe genug an den Tisch heran, damit sie speisen konnte.
»Ein ausgesprochen dummer Nigger bist du, und ich werd’ dafür sorgen, dass du ausgepeitscht wirst«, rief July.
Und Nimrod duckte sich vor ihr. »Tut mir leid, Missus.«
Die Orange auf dem Teller war nicht geschält. »Wie soll ich die essen?«, fragte ihn July. Als Nimrod sich vorbeugte, um die Orange mit einem Messer aufzuschneiden, schlug ihm July wieder mit dem Löffel auf den Kopf. »Stehst zu nah bei mir, Nigger«, sagte sie zu ihm. Und als er vor ihr zurückzuckte, schrie sie ihn an: »Was ist denn nun mit dem Obst? Soll ich’s etwa selber schälen?« Als er sich vorbeugte, um die Orange im zweiten Anlauf aufzuschneiden, verpasste sie ihm eine Ohrfeige. » Willste mir etwa nich’ gehorchen?«, fragte sie ihn.
»Doch, Missus«, sagte er atemlos.
»Wie kannst du es wagen, mit mir zu sprechen, während ich zu Tisch sitze«, sagte sie, bevor sie ihn wieder mit ihrem Löffel schlug.
Das Glas, das Nimrod mit Rotwein füllte, lief über, und der pflaumenblaue Inhalt tropfte auf den Tisch. »Sei vorsichtig, Nigger, das ist unser bester Wein«, war July gezwungen zu schreien.
Nimrod fiel
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