Das lange Lied eines Lebens
vor ihr auf die Knie und bettelte: »Nich’ schlagen, Missus, nich’ schlagen.«
»Aber ich muss«, sagte July und schlug ihn auf den Kopf, »oder du wirst es nie lernen.« Ihre Finger, die von der Orange noch ganz klebrig waren, umfassten den Stiel des Glases und hoben es an ihren durstigen Mund. Sie trank zwei hastige Schlucke, und der scharfe Geschmack ließ sie husten und prusten. Der Wein war ekelhaft. So etwas Abscheuliches hatte sie noch nie gekostet. » Willste mich vergiften, Nigger?«, sagte July.
Nimrods ängstliches Gesicht war alles, was July mit ihren tränenden Augen sehen konnte. Sie hustete wieder und wieder
und wieder. Allmählich aber wurde der Wein weicher und wärmte ihre Kehle. Sie leckte sich die klebrigen Tropfen von den Lippen. Dann nahm sie einen weiteren Schluck, der schon etwas süßer schmeckte. Und dann noch einen. Bis Nimrod sie mit gesenktem Kopf fragte, ob er ihr nachschenken solle.
Und schon bald verspürte July den Drang, Nimrod unterm Kinn zu kitzeln. Sie beugte sich vor und griff nach seinem kleinen Bärtchen, um die stacheligen Haare zu befühlen, aber da rutschte ihr der Ellenbogen vom Tisch – und sie hielt nichts in der Hand. Das fand sie sehr, sehr, sehr lustig. So lustig, dass sie von all dem Gezappel und Gekicher vom Stuhl glitt und auf dem Fußboden landete. Und plötzlich war alles dunkel, denn das Kopftuch war ihr über die Augen gerutscht.
Unter dem Tisch war es so finster wie am Himmel vor einem Sturm. »Komm, hilf mir auf den Stuhl«, rief July, denn sie hatte nicht die Kraft, sich von allein aufzurichten. Wie festgeklebt blieb sie liegen. Als Nimrod ihren Oberkörper umschlang, um sie hochzuheben, sagte sie: »Mehr Wein, Nigger.« Und als er sie wieder auf den Stuhl setzte, fasste sie erneut nach seinem Kinn.Verfehlte es aber. Er reichte ihr das Weinglas, das hin- und herschwankte, bis sich der süße, kostbare Wein auf ihren Rock ergoss.
»Bin ich hübsch, Mr Nimrod?«, fragte sie, als er ihr das Glas abnahm, um nachzufüllen. Er antwortete ihr nicht, und das fand sie sehr, sehr, sehr ärgerlich. Der Mann machte ein solches Affentheater – scharwenzelte hier um sie herum, scharwenzelte dort um sie herum. Ihr wurde ganz schwindelig davon. »Setz dich, setz dich, Mr Nimrod. Sitz still, dann kann ich deine Antwort hören«, sagte sie. Und Nimrod, der sich entgegen ihrem Befehl nicht gesetzt hatte, sondern noch immer beschäftigt war, rief, sie sei hübscher als alle weißen Frauen, die er kenne.
»Hübscher als Miss Clara?«
»Miss Clara? Ha! Hübscher als Miss Clara«, kam die Antwort vom anderen Ende des Saals. Und das gefiel July sehr, sehr, sehr
gut, denn Miss Clara war nicht so dunkel wie sie und war also hübsch. O ja, Miss Clara war eine feine Dame.
Und Nimrod hatte in der Stadt viele Frauen, denn Hannah sprach von ihnen, aber nur, wenn Nimrod nicht in der Nähe war. Eine von ihnen, eine Frau mit einem sauertöpfischen Gesicht, besaß ein Haus, in dem jede Menge kleiner Blagen mit O – Beinen herumliefen, hatte Miss Hannah gesagt.
»Mr Nimrod, wie viele Kinder hast ’n du?«, rief July zu ihm hinüber.
Er war zwar im Saal, aber sie konnte ihn nicht sehen. Doch sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, denn er stand hinter ihr und hielt mehr Wein bereit. »Sag’s mir«, drängte July. Aber er schnalzte nur ein paar Mal mit der Zunge und … begann, von einem Pony zu sprechen.Von einem Pony. Einem Shettlewoodpony. Seinem Shettlewoodpony. Nimrod sprach von seinem Shettlewoodpony. Nicht einmal Weiße besäßen ein so schönes Tier, sagte er. Und blickte dabei so ernst drein; mit seinem folgsamen Auge starrte er July an, während das andere, das sich auf ihre Brust heftete, so lustig aussah. July musste wider Willen kichern. Und ihr lief der Rotz aus der Nase. Deshalb wischte sie ihn an ihrem Rock ab. Und July wollte fragen, ob man mal reiten könne – das Pony. Sie öffnete schon den Mund, um zu fragen, vergaß jedoch, was sie hatte sagen wollen, denn Nimrod meinte, wenn sie seine Frau wäre, könne sie kommen und ihn in der Stadt besuchen. Und das war sehr, sehr, sehr lustig, auch wenn July gleich danach nicht mehr wusste, weshalb.
Und Nimrod sagte, er wolle mit ihrem Massa darüber reden, dass er sie freiließe, denn er sei ein bedeutender Schwarzer in der Stadt, ein Freier. Und wieder erwähnte er das Pony. Da fiel July ein Lied über ein Pony ein, das sie singen konnte und das Miss Rose ihr beigebracht hatte. Es ging: La, la, la, de dum, de
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