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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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die andere Richtung über sie hinweg. Und noch immer saß der Massa da. Saß einfach nur da.
    July begann sich zu regen. Sie musste die Glieder strecken, brauchte frische Luft, die nicht von Nimrods übelriechendem Atem erfüllt war. Sie brauchte etwas Feuchtigkeit für ihren ausgetrockneten Mund. Aber Nimrod legte ihr eine Hand auf die Schulter und hielt sie fest. Und als sich in der angsterfüllten Düsternis der Höhle unter dem Bett endlich ihre Blicke trafen, fragten sie einander stumm: Was macht er da? Wann können wir weg?
    Dann begann der Massa wieder vor sich hin zu murmeln. Er hantierte mit irgendetwas. Man hörte ein klickendes Geräusch und das Kratzen eines Fingernagels auf Holz. Plötzlich ein blendender Knall, so laut und hell, dass Nimrod und July, aufgerüttelt von der Explosion, mit den Köpfen an die Unterseite des Bettes stießen.
    Ein Schuss! Es war ein Schuss! Und wie ein mit der Hammeraxt gefällter junger Ochse stürzte der Massa polternd zu Boden. Sein Kopf schlug eine Armeslänge von Julys und Nimrods Versteck entfernt auf. Aus seinem offenen Mund quoll schmutziger Rauch. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten sie voll grimmiger Empörung an, als habe er soeben entdeckt, dass sie sich dort verborgen hielten. Aber nichts hatte er entdeckt. Denn aus seinem Hinterkopf schoss ein dicker Blutstrahl und ergoss sich über sein geschwärztes Gesicht und über den Fußboden.

DREIZEHNTES KAPITEL
    Wir müssen fliehen! Fliehen! Weit weg von hier. Sonst gibt’s Ärger! Ärger mit dem weißen Mann! Fliehen! Aber dazu war keine Zeit mehr. Denn Caroline Mortimer stand bereits in der Tür – ihr Gesicht war fahl, ihr Mund schlaff, ihr Atem still. Unter dem Bett gefangen, zuckten Nimrods Gliedmaßen in imaginärer Flucht, und eine ängstliche July musste noch immer pinkeln.
    Als Caroline ihren Bruder auf dem Boden liegen sah, beschloss sie, ihn für betrunken zu halten. Für den umgestürzten Stuhl, für den unverwechselbaren Knall eines Pistolenschusses (denn inzwischen war ihr dieses Geräusch vertraut) würde sich, dachte sie, eine einfache Erklärung finden; ebenso für den grauen Rauch des Schießpulvers, der den Raum trübte. »John«, sagte sie fast fröhlich, »was ist geschehen?«
    Doch dann trat Tam Dewar auf die Bildfläche. Er schob sich grob an ihr vorbei, kniete neben ihrem Bruder nieder und drehte dessen hingestreckten Körper um. Er hielt sein Ohr an die Brust des Mannes und entwand seinen Fingern die abgefeuerte Pistole. Erst als der Aufseher den Kopf in beide Hände nahm und entgeistert auf die schwere Wunde starrte – auf den von schwarzem Blut verkrusteten Krater, der einmal des Massas Hinterkopf gewesen war –, verflüchtigte sich Caroline Mortimers unschuldige Caprice. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie wankte durchs Zimmer und ließ sich schwer aufs Bett fallen. Sie hörte nicht, wie der Aufseher erklärte, ihr Bruder sei tot, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, zu kreischen: »Bringt den Arzt! Jemand, irgendjemand hole Arznei! Marguerite,
schnell! Marguerite! Wo ist Marguerite? Sie muss den Arzt holen. Marguerite!«
    Molly, die herbeigeeilt kam, begriff schneller als die Missus mit ihren beiden guten Augen, was vorgefallen war. »Der Massa is’ erschossen worden«, rief Molly. Und Byron, dessen Augäpfel wie die eines Pfeiffroschs hervortraten, rannte rein ins Zimmer und raus aus dem Zimmer, rein ins Zimmer und raus aus dem Zimmer und verkündete: »Massa ’s tot, Massa ’s tot.« Das wiederum lockte Florence und Lucy zur Tür. »Tot, tot, der is’ nich’ mehr«, meldeten sie über die Schulter Gott weiß wem, der die Nachricht mit dem nächsten Atemzug weitergeben sollte. Dann schnappte Patience das wilde Gerede auf. Sie stürzte ins Zimmer und wollte lauthals wissen: »Massa John? Is’ Massa John tot? Tot, sagt ihr, Massa John?«
    »Hör auf zu gaffen«, rief Caroline, »und hol den Arzt.«
    Der Hund knurrte wütend den Aufseher an, der sich über den Leichnam des Massas beugte und daran herumnestelte. Und Molly, die angesichts der ganzen Aufregung unverkennbar feixte, sagte: »O Herr, wie sein Kopf zermatscht ist, Missus. Ganz zermatscht.«
    »Seid still! Haltet endlich den Mund, alle zusammen«, donnerte Tam Dewar. Er stampfte mit dem Fuß auf und trat nach dem Hund, bis dieser die Flucht ergriff. Dann packte er Molly am Genick und schleuderte sie in Richtung Tür. Halb betäubt landete sie im Türrahmen. Patience schubste, stupste und knuffte er zur

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