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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Plötzlich krachten links von ihnen und von hinten Musketensalven. Peng, peng. Das waren nicht vierzig Neger, peng, und auch nicht fünfzig. Peng, peng, peng. Das waren tausend.Vielleicht zehntausend!
    Die Trelawny Interior Militia war umzingelt – die Milizionäre hatten gezögert und saßen in der Falle. Die weißen Männer, damit beauftragt, Eigentum, Frauen, Kinder und Nahestehende zu schützen, waren Männer der Scholle – ah, wie diese Wahrheit jedem einzelnen von ihnen in den Eingeweiden rumorte –, sie waren keine Soldaten, sie waren keine Rotröcke. »Ruhe bewahren«, musste Captain Shearer befehlen. »Bewahrt doch Ruhe!«
    Doch dann warf der Feuerschein einen Streifen goldenen Tageslichts durch die schwarze Nacht, als wäre soeben die Sonne aufgegangen. Und dort, in ihren armseligen Verstecken, waren die wenigen alten Neger zu sehen, die den Brand gelegt hatten. Diese Sklaven, wie sie sich zusammenkauerten und mit
ihren alten Buschmessern und Jagdflinten zielten, waren plötzlich so entblößt wie Schauspieler im Rampenlicht.
    Das Geräusch der tausend abgefeuerten Musketen kam von dem brennenden Bambus – die Luft in den Stängeln um sie herum knisterte vor Hitze. Bei Gott, für sie hatte es sich wie Gewehrfeuer angehört. Jetzt aber zeigte sich, dass die revoltierenden Nigger rostige, quietschende, wurmstichige, nutzlose Waffen umklammerten – Zeug aus dem letzten Jahrhundert, bei dem man eine Stunde fürs Nachladen benötigte –, Waffen, die diese feigen Diebe jahrelang unter ihren Dächern oder unter den Fußböden ihrer Hütten versteckt gehalten hatten. Ach, welch eine Erleichterung! Nicht die zerlumpten Rebellen waren es, die die beherzte Trelawny Interior Militia das Fürchten gelehrt hatten – es war der knisternde Bambus!
    Paff, paff, paff, und die paar alten Sklaven fielen tot zu Boden.
    Paff, paff, paff, da ihre Sihouetten sich gegen das Licht abhoben, waren sie so einfach abzuknallen wie Töpfe auf einem Zaunpfahl. Einige Sklaven rannten aus ihren Verstecken, um im hohen Gras Deckung zu suchen, wurden aber gejagt und wie quiekende Keiler erlegt. Andere kamen herangekrochen, um jedem Milizionär, der sie verschonte, die Füße zu küssen. Zitternd, die Augen weit aufgerissen vor Angst und nach Scheiße stinkend, beteuerten sie, mit vorgehaltenem Bajonett dazu gezwungen worden zu sein, sich dem Kampf anzuschließen, und mussten das Feuer, das sie selbst gelegt hatten, mit Eimern voller Erde löschen.
    Danach wurden sie trotzdem erschossen, diese feigen Moses, Cupids und Ebo Jims, denn wer würde sie nach alledem noch haben wollen? Entfesselte Sklaven sind nur noch für Würmer von Nutzen. Und die Besitzer würden für den Verlust ihres Eigentums eine Entschädigung erhalten.
    Der Bambus schwelte noch, doch die aufständischen Sklaven von Castle Estate waren bezwungen. Und wie sie nun einherstolzierten,
die beherzten weißen Männer der Trelawny Interior Militia – keine Soldaten, keine Rotröcke, aber, oho, eine Macht auf der Insel, die man fürchten musste.
    Später, als John Howarth und Tam Dewar zur Kaserne zurückritten, um sich neu zu gruppieren, wurden sie von der Haupttruppe ihrer Miliz abgetrennt und ritten mit zwei weiteren Männern, die die Episode von Castle Estate zu einer wahren Heldentat aufbauschten, die Straße in die Stadt entlang. An einer Biegung, wo sie sich zu einem schmalen Pfad verengte, hörten sie die Schreie einer Frau. Einer weißen Frau. Die meisten weißen Männer auf der Insel glaubten, dass der Schrei einer Weißen sich ganz anders anhört als der einer Negerin; er ist weicher, höher und hat einen melodischeren Klang, selbst wenn er dasselbe Entsetzen ausdrückt. Der Schrei einer Negerin konnte überhört werden, dem Schrei einer Weißen jedoch musste die Miliz nachgehen. So bogen sie eilends von der Straße ab.
    Schon bald sahen sie die weiße Frau vor einem kleinen Haus mit gepflegtem Garten. Eine rothaarige Frau, der Howarth in der Gemeinde oft begegnet war – eine Frau, die ihn so an seine verstorbene Agnes erinnerte, dass er sich zwei Mal gezwungen sah, sie zu grüßen, als sie merkte, wie er sie anstarrte.
    Nun aber war sie wie von Sinnen, brüllte und tobte. Die Frau raufte sich die aufgelösten und zerzausten Haare, fiel dann auf die Knie, hämmerte mit den Fäusten auf den Boden, sprang wieder auf und streckte flehentlich die Arme aus. Vor ihr, an einen Stuhl gefesselt, saß reglos, schlaff und seitlich zusammengesunken ihr Mann, der Missionar der

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