Das lange Lied eines Lebens
gewirkt.
In der Stadt hatte Godfrey sie – wie einen streunenden Hund! – mitten auf dem Kai sich selbst überlassen und war, nachdem er auf das Schiff gewiesen hatte, wo sie an Bord gehen sollte, einfach verschwunden, Gott weiß, wohin.Vielleicht hatte sich ihr Bruder, als er sah, dass sie in dieser schwierigen Situation ganz auf sich gestellt war, ein wenig aufgeregt. Denn als sie ihm ausführlich zu erzählen begann, was sich zugetragen hatte, als sie der Gnade der Haussklaven ausgeliefert gewesen war, hatte er die Hände auf die Ohren gelegt und sie gebeten, still zu sein.Aber so war er schon immer mit ihr umgesprungen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.
Nein. Zwar hatte Caroline ihren Bruder so bedrückt gesehen, dass er wochenlang nicht aufstehen wollte. Doch in letzter Zeit hatte er jeden Sonnenaufgang gesegnet – dessen war sie sich sicher. Als nun Tam Dewar mit einiger Verwegenheit ansetzte: »Falls Ihr Bruder sich das Leben genommen hat …«, erwiderte sie: »Aber das hat er nicht, Mr Dewar.« Und als er beharrte: »Falls er nun aber doch…«, beendete sie den Wortwechsel sehr streng und, wie sie glaubte, ein für alle Mal, indem sie erklärte: »Aber das hat er nicht.«
Denn Caroline wusste sehr genau, dass es Verbrechen wie Sünde wäre, wenn ihr Bruder sich das Leben genommen hätte, und daher die Gefahr bestand, dass sie alles, was sie auf der Insel besaßen, verlieren könnte. So hatte, als sie noch in London wohnte, ihre Nachbarin Jane Glover ihr Zuhause verloren, ihre Zukunftsaussichten und jeden Penny, den sie auf ihre angeberischen Seidenhüte hätte verschwenden können, nachdem ihr Vater im Haus aufgefunden worden war, wie er von einem Balken baumelte. Alles hatte man Jane Glover weggenommen! Monatelang war der Vorfall das Stadtgespräch von Islington gewesen. Ihrem Vater war sogar das Begräbnis neben seiner Frau auf dem Friedhof von St Mary’s verwehrt worden. Caroline konnte sich noch gut an Jane Glovers verängstigten Gesichtsausdruck erinnern, als sie in einer Kutsche davonfuhr. Sie war von einer Cousine aufgenommen und als gewöhnliches Hausmädchen eingesetzt worden!
Nun, geneigter Leser, was immer Caroline Mortimer als nächsten Akt in diesem Drama angegeben haben mochte, denn bei der Miliz, mehreren Friedensrichtern, Rechtsanwälten und in der Tat bei jedem, der je bei ihr zu Tische gesessen hatte, erstattete sie ihren eigenen umfänglichen Bericht vom Ablauf dieses Tages – was ich jetzt erzählen werde, ist die Wahrheit über die Vorfälle, die sich dann in jenem Schlafzimmer zutrugen. Zweifle nicht an meinen Worten, denke daran, dass meine Zeugin noch unter dem Bett liegt.
Nachdem Caroline – nun schon zum fünften Mal – Tam Dewar aufgefordert hatte, einen Arzt zu holen, der sich um ihren Bruder kümmern solle, schrie der Aufseher sie an: »Guter Gott, Frau, schauen Sie sich den Mann doch an, der hat ja gar keinen Kopf mehr!« Und in erregter Verfassung kniete er nieder, um ihr noch einmal zu demonstrieren, dass ihrem Bruder der Schädel fehlte.
War es July, die schluckte oder angstvoll einatmete? Zuckte Nimrod mit der Schulter, oder wackelte er mit seinem steifen
Fuß? Vielleicht war es bei diesem verhassten Aufseher ja auch nur der Geruch von Niggern.Wer will das heute noch wissen? Irgendetwas jedoch lenkte Tam Dewars Blick weg von der Leiche des Massas auf das Dunkel unter dem Bett. Und da sah er zwei große Augen – eines starrte ihn an, das andere nicht.
Noch ehe Nimrod merkte, dass er entdeckt worden war, hatte Dewar ihn am Genick gepackt. »Raus da«, rief Dewar, als er Nimrod gewaltsam aus seinem Versteck zerrte.
Als Caroline Mortimer den Neger erblickte, der unter dem Bett hervorgezogen wurde wie eine sich windende Wellhornschnecke aus ihrem Gehäuse, atmete sie zunächst so erschrocken ein, als liege sie in den letzten Zügen. Doch dann gelang es ihr mit größerer Kunstfertigkeit als einer Schauspielerin auf der Bühne, ihre Stimmung abzuwandeln und zu rufen: »Ah, der hat ihn erschossen. Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gesehen.« Und so kam ihre Geschichte zustande.
July, die noch immer unentdeckt unter dem Bett lag, beobachtete, wie der Aufseher mit Nimrod rang, der sich unter seinem Griff drehte und wand. Um Nimrod endlich zur Ruhe zu bringen, schlug Dewar ihm plötzlich so hart ins Gesicht, dass es sich anhörte, als schlüge ein Hammer auf Holz. Nimrod verdrehte die Augen wie ein Betrunkener, und mit Blut durchsetzter Geifer schoss ihm
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