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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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Tür. Sie strauchelte über Molly, und beide krabbelten auf allen vieren aus dem Zimmer. Unserem kleinen Byron versetzte er mit dem Stiefel einen solchen Tritt in den Hintern, dass der Junge in die Höhe flog und noch Stunden danach weinte. Florence und Lucy drohte er mit der Faust, denn sie standen zu weit entfernt, als dass er sie mit einem Schlag hätte erwischen können. Und als das Zimmer von Negern befreit war, knallte er die Tür mit einem gewaltigen Krach zu.

    July, die von dem schweren Gesäß ihrer Missus, das auf dem Bett lastete, fast zerquetscht wurde, gab ihrem Drang nach und wurde von ihrer eigenen Pisse durchweicht. Während Nimrod, ohne einen Laut, ohne eine Bewegung, ohne einen Atemzug, ohne eine Geste, July befahl, sich nicht zu verraten, sondern stillzubleiben … ganz still … ganz, ganz still.
    »Er ist tot, Mrs Mortimer.« Als ihr der Aufseher seine vom Blut ihres Bruder marmorierten dicken Handteller entgegenhob, fragte Caroline mit noch immer schwacher Stimme: »Sind Sie sicher?«
    »Ja. Er hat sich erschossen.«
    »Es hat sich was?«
    »Er hat sich das Leben genommen, Mrs Mortimer.«
    »Sich das Leben genommen, sagen Sie?«
    »Ja.«
    »Wollen Sie damit etwa sagen, das hat er sich selbst angetan?«
    »Genau das.«
    »Unsinn. Mein Bruder würde so etwas Unchristliches niemals tun, Mr Dewar«, informierte ihn Caroline. Das Zimmer roch wie ein Metzgerladen – es war einfach nicht genug Luft zum Atmen da. War es der Aufseher, der so stank? Caroline stand auf, um zum Fenster zu gehen. Das musste sie tun, oder sie würde ohnmächtig werden, so viel wusste sie. Aber seine Ausdünstungen folgten ihr auch dorthin.
    »Sehen Sie, sehen Sie doch selbst«, sagte der Aufseher. Mit seinem Stiefel drehte er den Kopf ihres Bruders um, damit sie die schreckliche Wunde besser sehen konnte. »Die Kugel ist hier eingedrungen«, fuhr er fort, als wäre ihr Bruder ein frisch geschlachtetes Rind, »und hier wieder ausgetreten.«
    »Rühren Sie ihn nicht an. Wie können Sie es wagen, ihn anzufassen? Lassen Sie ihn in Ruhe.« Caroline eilte zu ihm, um am Leichnam ihres Bruders Wache zu stehen.
    »Er hat sich die Pistole in den Mund gesteckt«, sagte der Aufseher.

    »So etwas würde er niemals tun, niemals. Das wäre eine Sünde wider Gott.«
    »Es ist die sicherste Methode, das wusste er«, sagte der Aufseher zu ihr.
    Caroline war entschlossen, die Lage sorgfältig zu überdenken. Ihr Bruder war tot. Erschossen. Vielleicht von eigener Hand. Von eigener Hand! O Gott! Sie musste diesem grässlichen Aufseher klarmachen, welche Maßnahmen er zu ergreifen hatte. Schließlich war er der Angestellte ihres Bruders, und nicht umgekehrt. Doch zuerst würde sie, die zarte, liebende hinterbliebene Schwester, ihren Bruder fest an ihre kummervolle Brust drücken, ihm über die erbarmungswürdige Stirn wischen und ihm einen zärtlichen Abschiedskuss auf die Wange drücken. Sie würde seine melancholische Seele für das ewige Jenseits vorbereiten, indem sie ihm mit den Tränen ihrer Trauer das Gesicht wusch. Aber, o Herr, er bot wirklich einen blutigen Anblick. Caroline Mortimer brachte es einfach nicht über sich, seinen schrecklichen Leichnam anzusehen, geschweige denn, ihn zu umarmen.
    »Er hat Ihnen eine ganz schöne Schweinerei hinterlassen«, sagte der Aufseher. Und von der nackten Wahrheit dieser Behauptung wurden ihre Knie so weich, dass sie schluchzend wieder aufs Bett fiel.
    Wäre Tam Dewar ein Gentleman gewesen – ihr und ihrem Bruder gleichgestellt – und nicht der Sohn eines schottischen Fischers von niedriger Geburt, den sie in England keines Blickes gewürdigt, geschweige denn um seine Meinung ersucht hätte, vielleicht hätte Caroline den Aufseher danach gefragt, was ihren Bruder seiner Ansicht nach dazu bewogen hatte, eine so gotteslästerliche Handlung wie Selbstmord zu begehen. Und wäre Tam Dewar ein Mensch gewesen, für den Verzweiflung und Todesschmerz noch eine Quelle seelischer Unruhe gewesen wäre und kein täglich Brot, vielleicht hätte er es als einen
Akt christlicher Nächstenliebe aufgefasst, Caroline Mortimer mitzuteilen, was er und ihr Bruder alles hatten miterleben müssen, nachdem sie die Tafel verlassen hatten, um sich der Miliz anzuschließen.
    Er hätte damit beginnen können, ihr von dem unbehaglichen Ritt durch die Stadt zu berichten, den er und John Howarth unternommen hatten, um sich ihrem Regiment zuzugesellen, das in der Nähe von Hope Hill stationiert war. Auf der Straße waren keine

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