Das lange Lied eines Lebens
einen Hügel hinabgerollt. Howarth hielt diese Maßregelung für etwas … mutwillig.
Doch was John Howarth an diesem Tag dazu bewog, seinen Gott infrage zu stellen, weil er in der Welt, die er kannte, eine solche Barbarei duldete – was ihn dazu bewog, angesichts der Grausamkeit seiner Mitmenschen nach Luft zu ringen, während ein gerechter Zorn in seinem Bauch gärte, bis er sich krank, beschämt und angeekelt fühlte, war der Anblick, der sich ihm jetzt bot: neun weiße Männer, die sich als Frauen verkleidet hatten.
Für John Howarth waren es die hässlichen Schönheiten zu Pferde, die den guten Ruf der Pflanzer von Jamaika besudelten. Dass sie den Flitterkram des schönen Geschlechts als teuflische Vermummung benutzten, brandmarkte sie als unbarmherzig, gefühllos und verkommen. Neun Gentlemen, angetan mit einem Wust von Hauben und Unterröcken, wetteiferten miteinander, einen Weißen wie sie selbst vor seinen Kindern, seiner Frau zu demütigen, zu peinigen und zu quälen. Einen Mann Gottes zu teeren und zu federn! Einen Missionar! Eine Christenseele! Für John Howarth war dies eine unfassbare Grausamkeit. Eine Schandtat.
»Hören Sie sofort auf damit«, kläffte er die lächerliche Gruppe an, »das ist verroht.«
»Lassen Sie, Howarth. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, kam die gereizte Antwort. Und obwohl John Howarth auf eine fette Hure starrte – sie war mit einem blauen Turban gekrönt, von dem eine Feder wie eine Blaubeere baumelte – , erkannte er die Stimme sofort: Es war der langweilige alte Anwalt von Unity; er, der erst vor wenigen Tagen an seiner Tafel diniert hatte.
»Mr Barrett. Ich habe Sie erkannt. Das ist nicht das Verhalten eines Gentlemans. Ganz gleich, was dieser Mann verbrochen hat, das verdient er nicht«, schrie Howarth ihn an.
Plötzlich brach ein heftiger Aufruhr los. »Auf welcher Seite stehen Sie, Howarth? … Nennen Sie bloß keine Namen … Fort mit Ihnen, fort mit Ihnen«, schrie die Rotte männlicher Huren.
Unter den wütenden Gesichtern erblickte Howarth auch George Sadler – den Idioten von Windsor Hall –, der eine rote Stola und eine Haube mit Kopftuch trug. Hatten all diese Männer seine Tafel etwa nur deshalb verlassen, um die Kleiderschränke ihrer Frauen für diese widerliche Maskerade zu plündern ? »Haben Sie kein Mitleid? Haben Sie kein Schamgefühl? Das ist ein Mann Gottes«, bat Howarth sie eindringlich.
Zu seiner Linken spie jemand auf den Boden, bevor er entgegnete: »Der Mann ist nicht besser als ein Nigger.« Da sprang Howarth hoch, um den Reiter vom Pferd zu zerren. Mit aller Kraft zog er am Bein des Mannes, bis dieser in einem Gewirr von Röcken und zerreißendem Stoff zu Boden fiel.
In dem Handgemenge, das jetzt folgte, bekam Howarth den verfilzten Zipfel einer Perücke zu fassen und zog sie dem Mann vom Kopf. Darunter kam der Buchhalter einer benachbarten Plantage zum Vorschein und starrte ihn betreten an. Das heißt, bis er sich auf Howarth stürzte und ihm einen höchst schmerzhaften Schlag auf die Nase versetzte. Howarth taumelte zurück und hielt sich die Nase, um den Schwall von Blut aufzufangen, der wie aus einem Krug daraus hervorschoss. Ein anderer Mann, der vom Pferd gestiegen war, hob anmutig wie eine Madame seine Röcke und gab Howarth einen Tritt. »Lassen Sie, wir kümmern uns schon darum. Das alles ist wohlverdient«, schrie er und fuchtelte mit einer Pistole vor Howarths Gesicht herum.
Es war Tam Dewar, der John Howarth aus dieser Prügelei retten musste.Wie ein kleiner Junge, den sich mitten im Gerangel ein Kindermädchen greift, spürte er, wie der Aufseher ihn vom Boden hob und zu seinem Pferd trug. Dann wurde John Howarth, der noch immer fluchte und die neun Gentlemen als Hurensöhne beschimpfte, weggeführt.
Und als die verstörte Frau des Mr Bushell sah, dass sie davonritten, während ihr Mann noch immer in der Pose des Todes dalag, jammerte sie: »Kommen Sie zurück. Mr Howarth, kommen Sie zurück. Helfen Sie ihm. Helfen Sie uns, bitte.« Doch Howarth, der, um seine blutende Nase hochzuhalten, in unbequemer Haltung auf seinem Pferd sitzen musste, ritt einfach weiter.
Natürlich erzählte Tam Dewar Caroline Mortimer nichts von diesen Ereignissen. Da sie also völlig blind dafür war, was John Howarth in den wenigen blutigen Tagen des Baptistenkrieges widerfahren war, sah sie keinen rechten Grund, weshalb ihr Bruder in schwerer Not sein sollte. Als er sie gefunden hatte, hatte er völlig gelassen auf sie
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