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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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aber wusste Bescheid. Und was er ebenfalls wusste, war: »July ist das Wurm vom Aufseher Dewar. Viele Male hat er Miss Kitty von hinten genommen – viele, viele Male, seit er nach Amity gekommen ist.« Benjamin hatte mit Kitty zusammengearbeitet, als sie sich das Baby July auf den Rücken gebunden hatte. In der zweiten Arbeitskolonne hatten sie gemeinsam die ausgepressten Zuckerrohre weggeschafft und wegen des ununterbrochenen Geplärrs, das von Kittys Rücken kam, mit der Zunge geschnalzt. July erkannte er an ihrem Gebrüll – er konnte es beschwören. »Und wenn ich sie schon wiedererkannt hab, muss auch ihre Mama sie daran erkannt haben. Drum is’ sie zu ihr gerannt – zu ihr gerannt!«

    Was dann geschah, ist von so vielen Leuten so vielfach erzählt worden – von einigen, die sich zu der Zeit gar nicht in der Gemeinde aufgehalten hatten, von anderen, die nicht einmal auf die Welt gekommen waren –, dass es deiner Erzählerin schwerfällt, zu entscheiden, welche Version sie wiedergeben soll. Dass Kitty Tam Dewar packte, bevor er July ein zweites Mal schlagen konnte – so viel steht fest. Dass sie sich mit solcher Kraft auf ihn warf, dass er July erschrocken losließ, ist ebenso wahr. Dass Kitty ihr mit ängstlichem Nachdruck wegzurennen befahl – ins Zuckerrohrfeld, in den Wald, irgendwohin, nur renn! Und dass July, als sie ihre verloren geglaubte Mama vor sich sah, so entgeistert stehen blieb, dass sie bis auf die Kinnlade, die ihr herunterklappte, jede Bewegung einstellte. Kitty musste mit dem Fuß aufstampfen, damit ihre Tochter wieder zu sich kam und die Flucht antrat, sie musste sie regelrecht wegscheuchen – ein Mal, zwei Mal – und sie anschreien: »Renn, July, renn!« All das ist verbürgte Wahrheit.
    Aber hackte Kitty in dem wilden Kampf mit Tam Dewar, der jetzt entbrannte, mit ihrer Machete auf seine Fußgelenke ein, als sei er ein Stück Zuckerrohr, das umgehauen werden musste? Fasste sie ihn am Nacken und schwang ihn in die Luft, dass er mit einem Krach zu Boden fiel? Schlug sie seinen Kopf gegen einen Stein, bis er aufplatzte wie eine reife Kokosnuss? Drehte sie ihm die Arme auf den Rücken, bis sie spürte, wie sie brachen? Trat sie auf ihn ein? Sprang sie auf ihn drauf? Das, geneigter Leser, werden wir nie erfahren, denn niemand war Zeuge. Wo zuvor, trotz des Gewirrs aus Mondschein und Qualm, alle etwas gesehen hatten, konnte sich plötzlich niemand mehr erinnern. Keine Menschenseele sah, wie Kitty Tam Dewar ansprang. Nicht eine.
    Nur eins ist bekannt: dass Tam Dewar zwar nicht tot, aber mit gebrochenem Schlüsselbein, gebrochenem Schädel, zwei gebrochenen Fußknöcheln, zwei gebrochenen Armen und zermalmten Rippen ausgestreckt auf dem Boden des Mühlenhofs
liegend aufgefunden wurde. Wunden, an denen er zwei Tage später sterben sollte – zuckend, spuckend und heißer als brodelnder Zuckerrohrsud.
    Und der Mann von der Miliz, der Kitty an diesem Tag einfing – sie fesselte, knebelte und in Gewahrsam nahm –, sagte aus, die Sklavin habe bewegungslos im Hof gesessen, in einiger Entfernung von der leblosen Leiche eines freigelassenen Negers, aber neben dem verstümmelten Körper des Aufsehers von Amity. Und als er sie gefangen setzte, habe der teuflischen Niggerin ein Grinsen im Gesicht gestanden.

FÜNFZEHNTES KAPITEL
    Als July ihre Mama das nächste Mal sah, trug Kitty ein breites Joch aus schwärzestem Eisen um den Hals. Die Ketten, die von diesem Halsband herabhingen, fesselten ihre Handgelenke so straff, dass die Hände in eine Gebetshaltung gezwungen wurden. Das zerschundene Gesicht ihrer Mama war zur Größe einer Brotfrucht aufgegangen – die gequetschten Augen waren zugeschwollen, die Wangen verquollen von blauen Flecken, die Unterlippe gespalten und die Zunge so aufgedunsen, dass sie den Mund nicht schließen konnte. Als sie zum Galgen geführt wurde, den man auf dem Marktplatz errichtet hatte, konnte sie wegen der Fußschellen, mit denen ihre Fußgelenke gefesselt waren, nur mehr humpeln und schlurfen.
    Obwohl Kittys zerschlagenes Gesicht eher dem eines Tieres als dem einer Frau ähnelte, brachte sie eine verwirrte Miene zuwege. Denn sie wusste nicht, dass die Gerichtsverhandlung bereits stattgefunden hatte und sie wegen ihres Verbrechens an Tam Dewar längst verurteilt worden war. Sie glaubte, dass sie nur den Gerichtssaal durchquert habe. Und dass dieser Moment, als sie die Weißen flüchtig gesehen hatte – wie sie da in Reihen hintereinander saßen, sich in der Hitze des

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