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Das launische Eiland.

Das launische Eiland.

Titel: Das launische Eiland. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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sagen würde – gestellt, und zwar antemarcia, also noch vor dem »Zug der Tausend«, und sie dennoch weiterhin mit scheelem Blick angesehen. Doch es handelte sich um einen derart kurzlebigen Waffenstillstand, daß man wortwörtlich nicht die Zeit gefunden hatte, die Steinquader und den Kalkverputz von den Fenstern zu entfernen: Die beiden Söhne Fofò Cavatortas waren Garibaldi bis auf den Aspromonte gefolgt, was der gesamten Familie Cavatorta das Exil auf Malta und die öffentliche Verramschung ihrer Güter eingebracht hatte. Da die Ciaramiddaros die über lange Zeit erduldeten Schikanen vorzuweisen hatten, von denen die zugemauerten Fenster klar Zeugnis ablegten, hatten sie sogleich auf ihr Recht nach Wiedergutmachung gepocht: Der Palazzo Cavatorta mußte ihnen zufallen, sollte nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit begangen werden. Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt, das heißt ohne Totò Barbabianca, gemacht, der diesen Palazzo als den einzigen seinem frisch erworbenen Bürgerstand angemessenen betrachtete. Eine Woche lang widmete sich Don Totò, ohne einmal Atem zu holen, der Aufgabe, die Bourbonenvergangenheit der Familienmitglieder der Ciaramiddaro zum Stadtgespräch zu machen, einen Cousin dritten Grades mit eingeschlossen, den die Ciaramiddaros ehrlich gesagt noch nie gesehen noch von ihm gehört hatten. Er soll laut Don Totò eine gewisse Zeit lang enger Freund – und wer weiß, was sonst noch – des gefürchteten Polizeidirektors der Bourbonen, Salvatore Maniscalco, gewesen sein. Für die Ciaramiddaros brachen sieben endlos lange Tage an, und hinterher waren sie derart angeschlagen, daß sie umgehend zu glühenden Verfechtern des fast göttlichen Anrechts der Barbabiancas wurden, selbst das gesamte Dorf aufzukaufen, sollte ihnen der Sinn danach stehen. Nachdem Don Totò Besitz vom Palazzo ehemals Cavatorta genommen hatte, vergeudete er die schwindelerregende Summe von sechzigtausend Lire für Umbau- und Verschönerungsarbeiten und erwarb sich mit diesem finanziellen Kraftakt das Recht, den Palazzo von nun an mit seinem Namen zu benennen. Die Fenster und Balkone zur Via Quintino Sella ließ er jedoch nicht freilegen, nicht, weil er etwa wie der vorherige Besitzer Gefühle echten Abscheus seinen Nachbarn gegenüber empfände, sondern weil für ihn in jeder Lebenssituation galt: Je weniger Augen dich sehen, desto besser. Zur Via Quintino Sella hin gab es wie seit eh und je nur eine Öffnung, die zuzumauern keinem jemals in den Sinn gekommen war: ein grob gemauertes Fensterchen zur Belüftung des Dachbodens, und der war, wie man weiß, kein besonders belebter Ort.
    Das war er nicht. Denn einige Zeit, nachdem Signora Heike, die Schweizer Ehefrau des jüngeren Sohns Gaetano, genannt Stefano, im Palazzo Barbabianca eingetroffen war, hatte sie begonnen, zweimal pro Woche diesen Ort aufzusuchen: Dienstag nach dem Mittagessen und Donnerstagvormittag. Sie war blond, wie es sich für jemanden aus dem Norden gehört, und wurde von den Familienangehörigen im ersten Jahr ihres Aufenthalts in Vigàta »Dienstmagd« genannt (denn Bedienung war sie tatsächlich gewesen: Gaetano hatte sie in dem Schweizer Hotel, in dem er logierte, kennengelernt und gedroht, sich das Leben zu nehmen und die ganze Familie auf immer und ewig in tiefe Schuld zu stürzen, falls er sie nicht zur Frau nehmen dürfte); doch nach und nach hatte sie dank ihres sanften Gemüts und ihrer unbestreitbaren Herzensgüte wenn schon nicht die Zuneigung, so wenigstens die Duldung der Barbabiancas gewonnen. Unter anderem hatte sie sich zur Aufgabe gemacht, dem taubstumm geborenen Sohn von Mariannina, der Haushälterin, das Sprechen beizubringen. Als Heike aus der Schweiz im Palazzo Barbabianca eintraf, war Totuzzo fünfzehn Jahre alt, doch er wirkte wie fünfundzwanzig. Alle hielten ihn für einen hoffnungslosen Trottel. Als blöd galt er auch in den Augen seiner Altersgenossen, die jedoch aufgrund der Größe gewisser männlicher Attribute, die besser zu einem Esel als zu einem menschlichen Lebewesen paßten, einen geheimen Neid auf ihn hegten. Als Signora Heike die Aufgabe übernommen hatte, Totuzzo die Gabe des Sprechens zu lehren, mußte sie sehr laut reden, um sich bei dem Tauben verständlich zu machen. Deshalb beschloß sie, einen Teil des Speichers leerzuräumen, um dort unbesorgt, ohne die anderen zu stören, schalten und walten zu können. Ihre gutturale Stimme, die manchmal in einen weichen, aus der Brust kommenden Tonfall

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