Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
und mitten hinein in den Sonnenuntergang. Und dann, dann werde ich zu Licht, dann kann ich überall sein.
Es wäre meine Natur, ich wäre für immer da, jeden Abend.
Jean Perdu goss sich noch ein Glas ein.
Die Sonne ging langsam unter. Ihr rosenfarbenes Licht legte sich über das Land und färbte die Fassaden golden, ließ Gläser und Fenster aufschimmern wie Diamanten.
Und dann passierte es.
Die Luft begann zu glühen.
Als lösten sich Milliarden Tropfen, die funkelten und tanzten, so legte sich ein Schleier aus Licht über das Tal, über die Berge und über ihn, Licht, das zu lachen schien.
Niemals, wirklich niemals hatte Jean Perdu bisher solch einen Sonnenuntergang gesehen.
Er trank noch einen Schluck, während die Wolken begannen, sich in allen Schattierungen von kirsch- über himbeer- bis pfirsich- und honigmelonenfarben auszubreiten.
Und da endlich begriff Jean Perdu.
Sie ist hier.
Dort!
Manons Seele, Manons Energie, Manons ganzes vom Körper befreites Sein, ja, sie waren das Land und der Wind, sie war überall und in allem, sie funkelte, sie zeigte sich ihm in allem, was sie war …
… weil alles in uns ist. Und nichts vergeht.
Jean Perdu lachte, aber es tat zu weh in seinem Herzen, also verstummte er und lauschte nach innen, wo sein Lachen weitertanzte.
Manon, du hast recht.
Es ist alles noch da. Die gemeinsamen Zeiten sind unvergänglich, unsterblich. Und das Leben hört nie auf.
Der Tod unserer Lieben ist nur eine Schwelle zwischen einem Ende und einem Neuanfang.
Jean atmete tief ein und langsam wieder aus.
Er würde Catherine bitten, mit ihm diese nächste Stufe, dieses nächste Leben zu erkunden. Diesen neuen, hellen Tag nach einer langen, düsteren Nacht, die vor einundzwanzig Jahren begonnen hatte.
»Auf Wiedersehen, Manon Morello. Auf Wiedersehen«, flüsterte Jean Perdu. »Wie schön, dass es dich gegeben hat.«
Die Sonne versank hinter den Hügeln des Vaucluse, und der Himmel glühte, übergossen von flüssigem Feuer.
Erst als die Farben verblassten und die Welt zu Schatten wurde, trank Perdu das Glas Manon leer, bis zum letzten Tropfen.
Epilog
S ie hatten schon zum zweiten Mal gemeinsam die dreizehn Desserts zu Heiligabend gegessen und die drei Gedecke für die Toten, die Lebenden und für das Glück des kommenden Jahrs aufgelegt. Drei Plätze blieben stets frei an der langen Tafel in Luc Bassets Haus.
Sie hatten »Das Ritual der Asche«, das okzitanische Bittgebet der Verstorbenen gehört, das Victoria ihnen vorlas, am offenen Kamin in der Küche. Es war ihr Wunsch, das an jedem Todestag zu tun, für ihre Mutter Manon und für sich. Es war die Botschaft der Toten an ihre Lieben.
»Bin die Barke, die dich zu mir führt«, hob Vic mit klarer Stimme an. »Bin Salz auf deinen tauben Lippen, bin das Aroma, das Wesen aller Speisen … bin überraschte Morgenröte und geschwätziger Sonnenuntergang. Bin Insel unerschütterlich, der das Meer entflieht. Bin, was du findest und was langsam mich befreit. Bin die gute Grenze deines Alleinseins.«
Bei den letzten Worten weinte Vic, ebenso wie Jean und Catherine, die sich an den Händen hielten. Und auch Joaquin Albert Perdu und Lirabelle Bernier, gelegentliche Perdu, die hier in Bonnieux so etwas wie einen Waffenstillstand als Liebhaber und Geliebte probten. Die strengen Nordländer, die sonst so leicht nichts rührte, schon gar nicht Worte.
Sie hatten Max, ihren »sozusagen adoptierten« Enkel, sehr liebgewonnen. Und auch die Familie Basset, mit der sich ihr Leben durch Liebe, Tod und Schmerz verbunden hatte. All diese merkwürdigen Gefühle brachte Perdus Eltern für kurze Zeit zu den Feiertagen zusammen. Im Bett, zu Tisch und im geteilten Wagen. Im Rest des Jahres durfte sich Jean am Telefon natürlich weiterhin die Beschwerden seiner Mutter über ihren geschiedenen Mann, den »Anstands-Legastheniker«, anhören oder die belustigten Klagen seines Vaters über die Frau Professorin.
Catherine vermutete, dass sich die beiden mit ihren spitzen Spötteleien anwärmten, um dann, zum Nationalfeiertag, zu Weihnachten und seit neuestem sogar zu Perdus Geburtstag, mit Leidenschaft ineinanderzufallen.
Die Zeit vom dreiundzwanzigsten Dezember bis zum Dreikönigstag verbrachten sowohl die alten Perdus als auch Jean und Catherine in Bonnieux.
Die Tage zwischen den Jahren waren mit viel Essen, Lachen und Reden vergangen, mit langen Spaziergängen und Weinproben, Frauengesprächen und Männerschweigen. Und nun nahte die neue Zeit. Wieder
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