Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
historischen Gemälde. Lange Rebenreihen, aufgestellt wie Soldaten, reif und saftig. Riesige, verblühte Lavendelquadrate. Grüne, braune, currygelbe Felder, und dazwischen das sich bewegende, winkende Grün der Bäume. Es war ein so schönes Land, und der Ausblick majestätisch – er bezwang jeden, der eine Seele besaß.
Es war, als sei dieser Kalvarienberg mit seinen dicken Mauern, den wuchtigen Grabsarkophagen, den wie Finger in die Luft zeigenden Steinkreuzen die unterste Stufe des Himmels.
Auf dieser lichten Höhe würde Gott heimlich sitzen und schauen. Und nur die Toten und er konnten über diesen weiten, feierlichen Blick verfügen.
Jean ging über groben Kies bis zu dem hohen, schmiedeeisernen Tor, mit gesenktem Kopf und klopfendem Herzen.
Das Areal war lang und schmal. Es war auf zwei Ebenen angelegt, mit je zwei Reihen Gräbern. Verwitterte sandfarbene Totenschreine und schwarzgraue Marmorsarkophage auf der oberen Ebene, und noch mal je zwei auf der unteren. Grabsteine so hoch wie Türen, breit wie Betten, häufig gekrönt von einem trutzigen Kreuz. Fast lauter Familiengräber, tiefe Totenladen, in denen ganze Jahrhunderte der Trauer Platz fanden.
Zwischen den Gräbern standen gestutzte, schlanke Zypressen, die keinen Schatten spendeten. Hier war alles nackt und bloß, es gab keinen Schutz, nirgends.
Langsam und immer noch außer Atem schritt Perdu die erste Reihe ab und las die Namen. Auf den großen Sarkophagen standen Blumen aus Porzellan, stilisierte Bücher aus Stein, poliert und mit Fotos oder kurzen Versen versehen. Manche zierten kleine Figuren, die das Hobby des Verstorbenen nachstellten.
Ein Mann – Bruno – mit einem Irish Setter und in Jagdkluft.
Ein anderes Grab mit einer Hand Spielkarten.
Das nächste zeigte die Umrisse einer Insel, Gomera, offenbar der Sehnsuchtsort der Toten.
Steinerne Kommoden mit Fotos, Karten und stoßfestem Nippes. Die Lebenden von Bonnieux schickten ihre Toten mit vielen Nachrichten auf die Reise.
Die Dekorationen erinnerten Perdu an Clara Violette. Sie stellte ihren Pleyel-Flügel immer mit Krimskrams voll, den er hatte wegräumen dürfen, bevor sie ihre Balkonkonzerte gab.
Perdu nahm jäh wahr, dass er die Bewohner der Rue Montagnard No. 27 vermisste. Konnte es sein, dass er all die Jahre von Freunden und Freundinnen umgeben gewesen war und es nie gemerkt hatte?
In der Mitte der zweiten Reihe, mit Blick auf das Tal, fand Jean dann Manon. Sie lag bei ihrem Vater, Arnoul Morello.
Wenigstens ist sie nicht ganz allein, da drin.
Er sank auf die Knie. Lehnte seine Wange an den Stein. Legte seine Arme an die Seiten, als ob er den Sarkophag umarmen wollte.
Der Marmor war kühl, obgleich sich die Sonne in ihm spiegelte.
Die Grillen zirpten.
Der Wind klagte.
Perdu wartete darauf, dass er etwas spürte. Sie spürte.
Doch alles, was seine Sinne ihm verrieten, waren der Schweiß, der ihm den Rücken hinunterrann, das schmerzhafte Pochen des Pulsschlags in den Ohren, der spitze Kies unter den Knien.
Er öffnete die Augen wieder, starrte auf ihren Namen, Manon Basset (née Morello), auf die Jahreszahlen 1967–1992, auf den Rahmen mit einem schwarzweißen Bild von ihr.
Aber nichts tat sich.
Sie ist nicht hier.
Ein Windstoß fuhr durch eine Zypresse.
Sie ist nicht hier!
Enttäuscht und ratlos stand er auf.
»Wo bist du?«, flüsterte er in den Wind hinein.
Der Familiengrabstein war vollgestellt. Porzellanblumen, Katzenfiguren, eine Skulptur, die wie ein offenes Buch aussah.
Manche Plastiken trugen Fotos. Lauter Bilder, die Perdu von Manon nicht kannte.
Ihr Hochzeitsbild, darunter der Schriftzug: »In Liebe, nie gereut, Luc.«
Auf einem anderen, auf dem Manon ihre Katze auf dem Arm hielt, stand: »Die Tür zur Terrasse steht immer offen – Maman.«
Auf einem dritten: »Ich kam, weil du gingst – Victoria.«
Vorsichtig griff Jean nach der Skulptur, die wie ein aufgeschlagenes Buch aussah, und las die Inschrift.
»Der Tod bedeutet gar nichts. Wir bleiben immer, was wir füreinander waren.«
Jean las die Zeilen noch einmal, diesmal laut.
Es waren die Worte, die Manon gesagt hatte, als sie in Buoux zwischen den dunklen Bergen ihren Stern gesucht hatten.
Er strich über den Sarkophag.
Aber sie ist nicht hier.
Manon war nicht dort, nicht eingesperrt im Stein, umfangen von Erde und trostloser Einsamkeit. Nicht für einen Wimpernschlag war sie hinabgestiegen in die Gruft zu ihrem verlassenen Körper.
»Wo bist du?«, fragte er wieder.
Er ging zu
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