Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
noch, den Mann aus Paris. Sie hofft immer noch.)
Warum Jean wohl nicht kam.
Zu viel Schmerz?
Ja. Zu viel Schmerz.
Schmerz macht den Mann dumm. Dummer Mann hat leichter Angst.
Lebenskrebs, das hatte mein Rabe.
(Meine Tochter löst sich vor meinen Augen auf. Ich schreibe und versuche, nicht zu weinen. Sie fragt, ob sie diese Nacht noch überlebt. Ich lüge sie an und sage: Ja. Sie sagt, ich lüge auch, wie Luc.
Sie schläft kurz ein. Luc nimmt das Kind. Manon wacht auf.)
Die Post hat er bekommen, sagt Mademoiselle Rosalette, die Gute. Sie wird auf ihn achten, soweit sie kann, soweit er es zulässt. Ich sage ihr: Stolz! Dumm! Schmerz!
Und sie sagt auch, dass er die Möbel zerschlagen hat und erstarrt ist. Erstarrt in allem, er ist fast wie gestorben, sagt sie.
Da sind wir ja schon mal zwei.
(Hier lacht meine Tochter.)
Maman hat heimlich etwas dazugeschrieben, was sie nicht soll.
Will es mir nicht zeigen.
Wir rangeln noch auf den letzten Metern.
Was soll es, was soll man sonst machen? Stumm und in der besten Wäsche warten, bis der Schnitter ausholt?
(Sie lacht schon wieder und hustet. Draußen färbt der Schnee die Atlaszedern wie ein Leichentuch. Lieber Gott, du bist alles, was ich hasse, weil du mir meine Tochter vor der Zeit nimmst und mir zum Trauern ihr Kind lässt. Was glaubst du, wie das gehen soll? Tote Katzen durch junge Katzen ersetzen, tote Töchter durch Enkeltöchter?)
Soll man nicht bis zuletzt so leben wie immer, weil genau das den Tod so ärgert: leben bis zum letzten Schluck?
(Hier hustet meine Tochter, und es vergehen zwanzig Minuten, bis sie wieder spricht. Sie sucht Wörter.
Zucker, sagt sie, aber das ist es nicht. Sie ärgert sich.
Tango, flüstert sie.
Tassentür, schreit sie.
Ich weiß, sie meint: Terrassentür.)
Jean. Luc. Beide. Ihr.
Letztlich. Gehe ich nur nach nebenan.
Ans Ende des Flurs, in mein schönstes Zimmer.
Und von dort in den Garten. Und dort werde ich Licht und gehe, wohin ich will.
Da sitze ich manchmal, am Abend, und sehe auf das Haus, das wir gemeinsam bewohnt haben.
Ich sehe dich, Luc, geliebter Mann, in den Zimmern umherstreifen, und dich, Jean, sehe ich in den anderen.
Du suchst mich.
Natürlich bin ich nicht mehr in den abgeschlossenen Zimmern.
Schau doch mal zu mir! Hier draußen.
Hebe den Blick, ich bin da!
Denk an mich und ruf meinen Namen!
Nichts ist weniger da, nur weil ich fort bin.
Der Tod bedeutet eigentlich gar nichts.
Er ändert doch nichts am Leben.
Wir bleiben immer, was wir füreinander waren.
Manons Unterschrift war geisterhaft und schwach. Über zwanzig Jahre später beugte sich Jean Perdu über die krakeligen Buchstaben und küsste sie.
44
A m dritten Tag hörte der Mistral einfach auf. Das war immer so. Er hatte an Gardinen gezerrt, die herumliegenden Plastiktüten neu und paritätisch verteilt, die Hunde zum Bellen gebracht und die Menschen zum Weinen.
Nun war er fort und damit auch der Staub, die verbrauchte Hitze und die Müdigkeit. Das Land hatte auch die Touristen abgestreift, die immer etwas zu schnell, zu hektisch, zu hungrig die kleinen Städte fluteten. Nun schwenkte der Luberon wieder auf sein Tempo um, das allein den Zyklen der Natur gehörte. Blühen, säen, sich paaren, warten, Geduld haben, ernten und im richtigen Moment das Richtige tun, ohne zu zögern.
Die Wärme kehrte zurück, aber es war die milde, lächelnde Herbstwärme, die sich auf abendliche Gewitter freute und auf morgendliche Frische, lang entbehrt während der brütenden Sommermonate, die das Land durstig gemacht hatten.
Je höher Jean Perdu über den steilen, gefurchten Sandsteinpfad aufstieg, desto stiller wurde es. Nur die Grillen, Zikaden und ein leichtes Windklagen begleiteten ihn, während er den wuchtigen Kirchberg von Bonnieux bezwang. Er hatte Manons Tagebuch dabei, eine bereits geöffnete, aber wieder lose verkorkte Flasche Wein von Luc und ein Glas.
Er ging, wie es der steile, unebene Weg von jedem verlangte, gebeugt, im Büßergang, mit kleinen Schritten und mit Schmerzen, die sich an den Waden emporrankten über die Beine, den Rücken, den Kopf.
Er passierte die Kirche, ihre Treppen, die fast einer Steinleiter glichen, die Zedern, dann war er oben.
Der Blick machte ihn schwindelig.
Das Land lag ausgebreitet weit, weit unter ihm. Der lichte Tag nach dem Mistral hatte den Himmel ausbluten lassen. Dort, wo Jean Avignon vermutete, war der Horizont fast weiß.
Er sah sandfarbene Häuser, hingewürfelt in das Grün und Rot und Gelb wie in einem
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