Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
sie jemals wiedersehen. Aber ich krieg schon Ärger, weil ich ein Mal allein in Shirley Court war.«
Mom und ich haben uns seit Monaten nicht mehr so richtig gestritten, deshalb war das wohl überfällig. Sie brüllte: »Unvernünftig! Gedankenlos!«, ich brüllte: »Tyrannisch! Ungerecht!« Dann rief ich noch: »Ich will dich nie mehr sehen!«, rannte hinaus, sprang auf mein Rad und strampelte los, so schnell ich konnte. Es war mir egal, wo ich landen würde. Es kümmerte mich auch nicht, dass ich vor lauter Wut vergessen hatte, eine Jacke überzuziehen, obwohl es draußen viel zu kalt war. Ich wollte einfach nur weg, so wie Matt und Jon.
Als Erstes radelte ich ein Stück die Howell Bridge Road hinunter, aber mir war klar, dass ich auf keinen Fall in die Stadt fahren wollte. Deshalb bog ich nach ein paar Kilometern in die Bainbridge Avenue ein und nahm dann mal diese, mal jene Abzweigung. Ich mied alle Straßen, die ich kannte – in jeder von ihnen würden Erinnerungen auf mich warten und denen wollte ich lieber nicht begegnen.
Ich fuhr bestimmt eine ganze Stunde lang herum, bevor ich mir eingestand, dass ich keinen Schimmer hatte, wo ich war, und erst recht nicht, wie ich von hier nach Hause kommen sollte.
Ich dachte: Von allen Dummheiten meines Lebens ist das hier die größte. Wenn ich jetzt sterbe, wird keiner jemals erfahren, was aus mir geworden ist.
Danach verlor ich endgültig die Fassung. Im Wintergarten kann man nicht gut weinen, weil immer jemand in der Nähe ist und weil man manche Tränen lieber allein vergießt. Aber ich war noch nie so allein gewesen wie in diesem Moment, als ich hier nass geschwitzt, frierend, hungrig und hilflos auf der Straße stand. Eine erste Träne rollte mir über die Wange, dann eine zweite. Und dann weinte ich mir sechs Monate Trauer, Wut und Angst von der Seele.
Ich hätte noch ewig so weiterschluchzen können, aber ich hatte kein Taschentuch dabei, deshalb konnte ich mich nur in meinen Pullover schnäuzen. Danach stand ich nicht mehr nur nass geschwitzt, frierend, hungrig und hilflos auf der Straße, sondern auch noch mit einem rotzverschmierten Pullover. Ich fing an zu lachen. Eine Weile lachte und weinte ich abwechselnd, dann lachte ich nur noch und am Ende ging das Lachen in ein Zittern über. Nach ein paar Minuten fühlte ich mich etwas besser, aber im nächsten Moment fing ich auch schon wieder an zu schluchzen.
Ich redete mir ein, dass Mom meinetwegen bestimmt keine Träne vergoss, obwohl ich wusste, dass das nicht stimmte. Es war wie in dieser Szene im Zauberer von Oz , wo Dorothy in die Kristallkugel blickt und sieht, wie Tante Emmy weinend nach ihr ruft. Ich wusste, dass auch Mom gerade weinte. Sie machte sich sowieso schon schreckliche Sorgen um Matt und Jon, und jetzt auch noch um mich. Daraufhin kamen mir erst recht wieder die Tränen. Ich machte mir ja auch Sorgen um meine beiden Brüder, und um mich selbst sorgte ich mich bestimmt sogar noch viel mehr als Mom. Sie dachte bestimmt, ich würde gerade die Häuser entlang der Howell Bridge Road plündern, wie sich das für eine zurechnungsfähige, ungehorsame Tochter gehört. Ich hingegen wusste, dass ich hier vollkommen durchgedreht, durchgefroren und orientierungslos herumstand.
Mir war klar, dass dieses Herumstehen irgendwann ein Ende haben musste. So stieg ich, nachdem das hysterische Zittern von einem normalen Zittern vor Kälte abgelöst worden war, wieder aufs Rad und überließ mich der Führung meiner Beine. Ich bog vorzugsweise nach rechts ab, sah aber trotzdem immer nur Landschaft und verlassene Farmen ringsum.
Weil mich das Rechtsabbiegen offensichtlich nicht weiterbrachte, bog ich schließlich nach links ab und entdeckte in ein paar Hundert Metern Entfernung eine Art Hügel. Den konnte man sich doch wenigstens mal ansehen. So fuhr ich weiter darauf zu.
Wegen der staubigen Luft war ich schon ziemlich dicht dran, bevor ich erkannte, dass der ganze Hügel aus Leichen bestand. Ich konnte gerade noch rechtzeitig absteigen, um mich zu übergeben. Eigentlich wollte ich nur ganz schnell wieder aufsteigen und umkehren, aber ich konnte nicht anders, als noch mal hinzuschauen.
Der Stapel war ungefähr sechs Leichen hoch und pyramidenförmig – unten lagen mehr Tote als oben. Er war aber nicht gleichmäßig geformt. An einigen Stellen lag der Schnee höher als an anderen, so dass der Haufen ziemlich unordentlich aussah. Die Kälte hatte alles konserviert. Unten ragten überall Hände und Füße
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