Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
hervor, weiter oben auch Köpfe.
Seit letztem Sommer sterben hier andauernd Menschen. Aber zu Anfang, als alles noch nicht ganz so schlimm war, hatte man sie wenigstens noch beerdigt. Viele wurden eingeäschert oder vielleicht auch auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt, keine Ahnung. Nach so etwas fragt man nicht. Nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.
Aber als dann die Sonne verschwand und es immer kälter wurde, starben immer mehr Menschen. An Hunger, an Krankheiten, durch Selbstmord. Mehr Tote, als die Lebenden bewältigen konnten.
Ich dachte, was, wenn Mrs Nesbitt hier in diesem Stapel steckt? Ich kenne viele Leute, die gestorben sind, aber in dem Moment war sie die Einzige, die mir einfiel. Vielleicht lag ja auch Mrs Nesbitt irgendwo außerhalb der Stadt auf einem Haufen schneebedeckter Leichen. Sollte Mom das jemals erfahren, würde es sie umbringen. Mrs Nesbitt war mehr als eine Nachbarin gewesen. Sie hatte zur Familie gehört.
Eigentlich wollte ich gar nicht genauer hinsehen, aber ich tat es natürlich trotzdem. Die Gesichter waren kaum zu erkennen, manche waren von Schnee bedeckt, andere zu weit oben, denn der Haufen war größer als ich. Und ich fand auch keine Mrs Nesbitt, die höchstwahrscheinlich doch eingeäschert worden war. Immerhin war sie schon ziemlich früh gestorben. Dafür entdeckte ich Mrs Sanchez, meine Schulleiterin, und Michelle Webster, die ich seit der fünften Klasse gekannt hatte. Die Beasley-Brüder, zwei zahnlose alte Männer, die früher bei jedem Wetter vorm Haushaltswarenladen gesessen und sich in ihrer Geheimsprache unterhalten hatten. Sie waren Nachkommen von Jedediah Howell gewesen, genau wie Mom. Genau wie ich.
Ich wollte ein Gebet für diese Menschen sprechen, ihnen Respekt erweisen – für ihr Leben und für das, was sie gewesen sind. Ich kenne nicht viele Gebete, und die einzige Zeile, die mir jetzt einfallen wollte, war ›und erlöse uns von dem Bösen‹. Das erschien mir ziemlich unpassend. Also sagte ich nur laut: »Es tut mir leid.« Dann noch mal: »Es tut mir leid.«
Wir könnten auch dort liegen. Wir müssten auch dort liegen. Mit welchem Recht waren wir an diesem 11. Mai noch am Leben und sie nicht? Warum lebte ich noch und Michelle Webster war tot? In der Schule war sie besser gewesen als ich. Mehr Freunde hatte sie auch gehabt. Trotzdem stand ich jetzt hier vor ihrer Leiche.
Und erlöse uns von dem Bösen. Und liefere uns dem Bösen aus trifft es wohl eher.
Ich stieg aufs Rad, trat in die Pedale, so fest ich konnte, und stellte fest, dass ich mich auf der Straße hinter der Highschool befand. Von dort aus fuhr ich zurück in die Stadt, zurück zur Howell Bridge Road, zurück zu unserem Haus, zurück in den Wintergarten.
Mom öffnete mir die Tür. Ich hatte mit einem warmen, tröstlichen Empfang gerechnet, aber der blieb aus.
»Da bist du wieder«, sagte sie nur. »Ich war mir nicht sicher, ob du zurückkommen würdest.«
»Wo soll ich denn sonst hin?«, fragte ich und ging sofort zum Feuer in der verzweifelten Hoffnung, seine Wärme könnte mich heilen.
»Und deine Brüder?«, fragte sie. »Werden die zurückkommen?«
»Wie denn?«, fragte ich. »Die sind doch tot. Alle sind tot.«
Mom wurde kreidebleich, und ich dachte schon, sie bricht zusammen. »Matt und Jon sind tot?«, schrie sie.
»Nein!«, rief ich. »Nicht Matt und Jon!« Ich sah den Leichenberg vor mir, mit den beiden obendrauf, mit uns allen obendrauf, und machte ein Geräusch, das ich nicht einmal beschreiben kann. Es kam von ganz tief drinnen, von dort, wo ich meine ganze Trauer und Wut verberge. Ein Geräusch, das niemand sollte anhören müssen.
»Miranda«, sagte Mom und schüttelte mich. »Miranda, woher weißt du das? Hat dir das jemand erzählt?«
»Ich hab sie gesehen!«, rief ich weinend. »Oh, Mom, es war so schrecklich. So was Schreckliches hab ich noch nie gesehen.«
»Wo?«, fragte sie. »Kannst du sie mir zeigen? Jetzt gleich. Wir müssen sofort los.«
»Okay«, sagte ich. »Aber du brauchst da nicht hinzugehen, Mom. Mrs Nesbitt hab ich nicht entdeckt, die war bestimmt nicht dabei.«
»Mrs Nesbitt?«, fragte Mom. »Warum sollte die am Fluss sein?«
»Ich war nicht am Fluss«, sagte ich. »Wieso – sind Matt und Jon etwa … « Ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
Mom holte tief Luft. »Matt und Jon«, sagte sie. »Werden sie zurückkommen?«
»Aber wie denn?«, fragte ich. »Du hast doch gerade gesagt, dass sie … « Ich konnte es immer noch
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