Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
beherrschen und sagte stattdessen: »Ja, doch, doch.« Dad ist das sicher nicht entgangen, aber Mr Danworth schien nichts zu bemerken.
»Wissen Sie, was?«, sagte er. »Meine Frau und ich, wir haben ein bisschen was beiseitegelegt. Ich gebe Ihnen einfach meine Tüte, damit wenigstens Ihre Frau für diese Woche versorgt ist. Ein Baby. Dafür kann man ruhig mal eine Woche hungern.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Dad. »Sie glauben gar nicht, wie sehr Sie uns damit helfen.«
»Vielleicht komm ich mal vorbei und statte dem kleinen Gabriel einen Besuch ab«, sagte Mr Danworth.
»Jederzeit«, sagte Dad. »Wir würden uns freuen.«
Auf dem Heimweg konnten Dad und ich uns ein bisschen unterhalten, weil der Wind jetzt von hinten kam. Nicht, dass ich besonders gute Laune gehabt hätte, auch wenn ich wegen der Lebensmittel für Lisa erleichtert war. Dann mussten wir wenigstens nicht ganz so viel von unseren abgeben.
»Als Lisa im Evak-Lager das Baby bekam, haben die Leute das auch oft gemacht«, sagte Dad. »Nicht nur Charlie. Auch viele andere. Sie hatten selbst kaum zu essen, aber trotzdem haben sie Lisa noch etwas abgegeben. Sogar Fremde, die nur von dem Baby gehört hatten. So wichtig war es ihnen, dass Lisa und Gabriel durchkommen.«
»Wenn Gabriel ein Mädchen geworden wäre, wie hättet ihr sie dann genannt?«, fragte ich.
»Abigail«, sagte Dad. »Abigail Hope Evans.«
Das war dann wohl das Ende meiner Rachel-Fantasien.
»Irgendwann werdet ihr auch Kinder haben«, sagte Dad. »Du und Julie und Syl. So Gott will, werde ich diesen Tag auch noch erleben.«
»Irgendwann vielleicht«, sagte ich. Aber um ehrlich zu sein: Wenn man die ganze Zeit nur an die nächste Mahlzeit denkt und sich danach sehnt, dass der eigene Vater einen genauso lieb hat wie zwei Fremde, sowie verzweifelt versucht, seinen kleinen Bruder lieb zu haben, obwohl der immer nur brüllt – dann hält sich der Wunsch nach einem eigenen Baby ziemlich in Grenzen.
Irgendwann vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht.
6. Juni
Zum zweiten Mal in einer Woche klingelte es heute an der Tür.
Aber diesmal war alles anders. Matt, Dad, Alex und Charlie waren draußen beim Holzhacken. Jon und Julie saßen in einer Ecke des Wintergartens zusammen. Julie bringt Jon jetzt nämlich Spanisch bei, für das er sich seit ein paar Tagen geradezu leidenschaftlich interessiert. Syl war oben, und Mom und Lisa hockten im Schneidersitz auf der Matratze, um abzusprechen, was Dad und Lisa drüben bei Mrs Nesbitt alles brauchen würden. Gabriel lag in seinem Bettchen und beobachtete alles ganz genau. Ich war gerade dabei, der Küche eine Grundreinigung zu verpassen, was mit fließendem Wasser wesentlich leichter geht, auch wenn es grau ist.
Ich schaute aus dem Küchenfenster und sah Mr Danworth an der Hintertür stehen. Ich war zwar am weitesten entfernt, aber die Einzige, die schon stand. So lief ich zur Tür und machte auf.
»Ich dachte, ich statte dem Baby mal einen Besuch ab«, sagte er – was, wie ich wusste, eigentlich bedeutete: ›Ich dachte, ich seh mal nach, ob dieses Baby, dem ich meine Wochenration geopfert habe, auch wirklich existiert.‹
»Da liegt es«, sagte ich und deutete auf das Bettchen, das früher mal Moms Pullover-Schublade gewesen war. »Gabriel, darf ich dir Mr Danworth vorstellen? Er sorgt dafür, dass deine Mommy genug zu essen hat.«
»Wow«, sagte Mr Danworth, als er sich neugierig über ihn beugte. »Du bist aber ein großer Junge. Ein ganz schöner Brummer, was?« Er wandte sich um und entdeckte Lisa. »Dann sind Sie wohl Sally Nesbitt?«, sagte er.
Lisa lächelte. »Ist er nicht wunderschön?«, fragte sie. »Mein Weihnachtsgeschenk.«
»Ihr Mann hat schon erzählt, dass der Kleine zu Weihnachten geboren wurde«, sagte Mr Danworth. »Ihre Familie hat seitdem sicher eine Menge durchgemacht.«
»Wie alle anderen auch«, sagte Lisa. »Aber dafür haben wir jetzt Gabriel.«
»Bald fängt er an zu krabbeln«, sagte Mr Danworth. »Macht sich auf, die große, weite Welt zu erkunden.«
Lisa nickte. »Und sie vielleicht zu retten. Für uns alle. Seine Geburt stand unter einem besonderen Stern, da bin ich mir sicher.«
»Würde mich nicht überraschen«, sagte Mr Danworth. Er ließ den Blick über unsere kleine häusliche Szene schweifen. »Hallo Laura«, begrüßte er Mom. »Und Jon. Schön, dich zu sehen. Wer ist denn deine Freundin?«
»Ich bin Julie«, antwortete sie und zögerte dabei so leicht, dass ich vielleicht die Einzige war, die
Weitere Kostenlose Bücher