Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
unerträglich, selbst im Freien. Die Leichen waren aufgedunsen, die Gesichter nicht mehr zu erkennen. So schlimm meine Albträume auch gewesen waren, die Realität war noch viel schlimmer. Und ich war auch noch mit der Absicht hingefahren, Alex dafür zu bestrafen, dass er nicht auf mich gehört hatte.
»Ich hab mich schon gefragt, wo all die Leichen geblieben sind«, sagte er, als ginge es um die Frage, wo Mom wohl die Weihnachtsgeschenke versteckt hat.
»Es sind Leute dabei, die ich kenne«, sagte ich. »Freunde von mir.«
Alex blieb stehen und senkte den Kopf, um zu beten, was die Sache nur noch schlimmer machte. Erst recht, weil mir von dem Geruch und dem Anblick schlecht wurde und ich nur noch wegwollte.
»Es ist schlimm, wenn man Freunde verliert«, sagte Alex.
Ich fasste das als Signal zur Weiterfahrt auf. »Hast du auch welche verloren?«, fragte ich.
»Das hat jeder von uns«, sagte er.
Ich fand das eine ziemlich lausige Antwort. Er hätte etwas Tröstliches sagen oder von seinen eigenen Verlusten erzählen können. Aber mich darauf hinzuweisen, dass die ganze Welt nur noch ein einziger stinkender Leichenhaufen ist, war nicht gerade hilfreich.
Außerdem mag ich es einfach nicht, wenn mir jemand sagt, dass die Welt nur noch ein einziger stinkender Leichenhaufen ist. Jeden Abend schaltet Mom das Radio ein, um die Sender aus Pittsburgh, Nashville oder Atlanta zu empfangen. Jeden Abend kriegen wir mehr als genug von deren stinkenden Leichenhaufen zu hören.
Von daher hatte ich Alex’ Hinweis, dass jeder auf dieser Erde Freunde verloren hat, wirklich nicht nötig.
Das einzig Gute an meinem Ärger war, dass ich deshalb nur noch schneller fuhr. Diesmal achtete ich allerdings darauf, wo wir abbogen und auf welcher Straße wir uns befanden. Ich hatte absolut keine Lust, mich ausgerechnet mit diesem LLJA zu verirren.
Wenn einer von uns ein Farmhaus entdeckte, suchten wir als Erstes nach irgendwelchen Lebenszeichen – vorsichtiger, als ich es bisher getan hatte, weil es wärmer geworden ist, so dass die Leute ihre Öfen vielleicht gar nicht mehr beheizten. Aber die ersten drei Häuser, die wir durchsuchten, waren alle verlassen. Blöd war bloß, dass sie nicht nur verlassen, sondern auch noch völlig leer waren. Wir fanden ein halbes Seifenstück, eine fast leere Zahnpastatube und sonst nicht viel.
Erst wollte ich mir mein ›Hab ich dir doch gesagt‹ verkneifen, gab dann aber doch der Versuchung nach. »Ist ja irre, was wir hier draußen alles finden«, sagte ich. »Und das, obwohl die Leute auf dem Land meist viel länger geblieben sind und alles selber verbraucht haben.«
»Man kann nie wissen«, sagte Alex, was ich als ›Halt’s Maul, dumme Gans‹ interpretierte.
Was hätte Aschenputtel wohl mit einem bösen Stiefbruder angefangen?
Im vierten Haus, einem Ferienhäuschen, das von der Straße aus nicht zu sehen war, hatten wir etwas mehr Erfolg. Vermutlich hatte es schon im letzten Sommer niemand mehr genutzt, so dass alles, was wir fanden, mindestens zwei Jahre alt war. Aber bei Seife und Küchenrollen ist das schließlich völlig egal. Und weil es ein Ferienhaus war, gab es auch jede Menge Ferienhauslektüre. Ich schnappte mir ein Dutzend Taschenbuchkrimis für Mom und ein paar Liebesromane für Lisa und Syl.
»Wie schade, dass hier keine Lateinbücher für dich dabei sind«, sagte ich.
»Wie schade, dass man Bücher nicht essen kann«, erwiderte er.
Wenn Alex lächeln könnte, hätte er es in diesem Moment vielleicht getan. Dann hätte ich gewusst, dass seine Antwort ein Scherz war, und hätte zurückgelächelt. Aber er kann es nicht und tat es nicht, und so ließ ich es auch.
Wir fuhren weiter die Straße entlang und durchsuchten noch ein paar Ferienhäuser, fanden aber meist nur mehr von den gleichen Sachen. In einem Haus gab es wundersamerweise eine halbe Packung Wegwerfwindeln. Seit Gabriel bei uns ist, haben Syl und ich den Windeldienst übernommen, und selbst ein Dutzend Wegwerfwindeln erschienen mir wie ein Geschenk des Himmels.
Unsere Müllsäcke sahen immer noch leer aus, und so fuhren wir weiter. Die Gegend wurde immer einsamer. Ich war froh, dass ich Alex dabeihatte.
Ich weiß nicht, ob das Haus, bei dem wir zuletzt anhielten, wirklich das Letzte für den Tag gewesen wäre. Alex hatte noch nichts von Aufhören verlauten lassen und jede halbe Rolle Toilettenpapier macht uns das Leben ein bisschen leichter. Vielleicht hätten wir noch ein, zwei Stunden weitergesucht.
Und es war
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