Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
sprechen. Ich glaube, ich habe Dad noch nie auf einem Fahrrad gesehen, obwohl ich noch genau weiß, wie stolz ich ihm damals vorgeführt habe, dass ich Rad fahren kann.
Ich hatte es mir schön vorgestellt, mal ein bisschen mit Dad allein zu sein. Seit er zurück ist, sind wir das noch nie gewesen. Es gab so vieles, was ich ihm erzählen und ihn fragen wollte. Aber das Wetter war scheußlich. Kein Regen, aber kalt. Dazu ein scharfer Wind, der uns ins Gesicht blies. Märzwetter im Juni.
Vielleicht war es auch ganz gut, dass das Vater-Tochter-Gespräch ausfiel, denn als wir am Rathaus ankamen, um unsere Lebensmittel zu holen und Mr Danworth zu überzeugen, war Dad schon voll im Bob-Nesbitt-Modus.
»Meine Frau und ich wussten ja nicht, was uns erwartet«, sagte Dad, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Natürlich hatten wir nie was von Mom gehört, aber man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben. Dabei ist es fast schon ein Wunder, dass wir selbst noch am Leben sind. Unser Haus in San Diego wurde vollkommen zerstört. Zum Glück waren wir gerade bei Sallys Bruder Charlie zu Besuch, als das alles passierte. In Susanville. Ohne meine Mutter wären wir dort auch geblieben. Aber ich hab mir Sorgen gemacht, wo sie hier doch ganz allein war – bis auf Laura Evans und ihre Kinder, die öfter mal nach ihr geschaut haben. Also hab ich meine Frau und Charlie dazu überredet, nach Osten zu gehen. Das stellte sich dann auch wieder als ein kleines Wunder heraus, denn dadurch waren wir schon außer Reichweite, als die Vulkane ausbrachen. Und am Weihnachtstag ereignete sich dann das dritte Wunder: Gabriel, unser kleiner Sohn, kam auf die Welt.«
»Wie groß ist Ihre Familie, haben Sie gesagt?«, fragte Mr Danworth, was ich für ein gutes Zeichen hielt.
»Wir sind zu fünft, ohne Gabriel«, sagte Dad. »Aber Sally braucht natürlich etwas mehr zu essen, weil sie stillt. Da wären also Sally und ich, unsere beiden Großen, Alex und Julie, und Sallys Bruder Charlie. Alex und Julie sind ganz wunderbare Kinder, besser kann ein Vater sie sich nicht wünschen. Alex ist so was von clever. Wenn das alles hier vorbei ist, geht er bestimmt aufs College. Und Julie kümmert sich rührend um das Baby. Jeden Tag schaue ich sie an und danke Gott für mein großes Glück.«
Irgendwie war es komisch, Dad das alles sagen zu hören. Nein, falsch. Es war nicht komisch, es war schrecklich. Mir wurde richtig übel dabei. Nicht, weil ich dastehen und nicken musste, als wäre das alles die Wahrheit. Sondern weil es irgendwie die Wahrheit war. Dad kennt Alex und Julie zwar erst seit ein paar Monaten, aber zwischen ihnen besteht eine Vertrautheit, die er mit uns nicht mehr hat. Das merkt man allein schon daran, wie er sie anschaut, wie er alles, was Alex sagt, in sich aufzusaugen scheint, wie er Julie anlächelt. Bei Charlie ist das auch so. Als gehörten sie alle einem Geheimbund an, von dem die anderen ausgeschlossen sind.
Und so war es dann auch, als Mr Danworth mich fragte, ob das alles stimmte, was Dad erzählt hatte, und ich Ja sagte, gar nicht mal so sehr gelogen. Auch wenn ich Mom das niemals erklären könnte. Und auch sonst niemandem. Jon würde es sowieso nicht verstehen. Matt vielleicht ein bisschen zu gut.
»Ich nehme an, dass Sie einen Anspruch auf Lebensmittel haben«, sagte Mr Danworth. »Aber wir können Ihnen natürlich erst nächsten Montag welche mitgeben. Bis dahin sind Sie noch auf sich gestellt. Ich kann auch nicht garantieren, dass Ihr Schwager berücksichtigt wird oder dass Ihre Frau Sonderrationen erhält. Alles, was Sie mehr bekommen, bekommen die anderen weniger. Es ist leider nicht so, als könnten wir einfach bei der Regierung anrufen und sagen, hier sind jetzt fünf Leute dazugekommen, schickt uns mal entsprechend mehr.«
»Was immer Sie möglich machen können«, sagte Dad. »Wir sind für alles dankbar.«
»Gleiches Recht für alle«, sagte Mr Danworth – eine Redensart, die neulich abends gut gepasst hätte. »Kommen Sie denn die Woche noch allein zurecht?«
»Wir werden es müssen«, sagte Dad. »Sie kennen das ja. An Hunger sind wir inzwischen gewöhnt. Hauptsache, meine Frau ist versorgt. Wir anderen kommen schon über die Runden.«
»Ein Baby«, sagte Mr Danworth. »Das ist wirklich ein Wunder.«
Dad grinste. »Ich hab leider kein Foto von ihm«, sagte er. »Miranda, findest du nicht auch, dass Gabriel das schönste Baby der Welt ist?«
Ich wollte schon »Ja, Dad« antworten, konnte mich aber gerade noch
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