Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
man sich dafür wirklich angestrengt hat.«
Alex schüttelte den Kopf. »Du verstehst mich falsch. Bei dir ist das was anderes. Du strengst dich dafür an, das Haus sauber zu halten, und bist stolz darauf, wenn alles schön glänzt. Aber das meine ich nicht.«
Ich fand es ziemlich nervig, dass Alex anscheinend dachte, mein einziger Lebenszweck sei der Kampf gegen den Aschestaub. »Ich bin auf viele Dinge stolz«, sagte ich. »Zum Beispiel darauf, dass wir wieder alle zusammen sind. Dass wir es alle geschafft haben, am Leben zu bleiben. Und nicht die Hoffnung aufzugeben. So was macht mich stolz. Und das soll eine Sünde sein?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Alex. »Aber diese Art von Stolz meinte ich auch nicht.«
»Ach so«, sagte ich. »Dann meinst du vielleicht Eitelkeit. Wenn man stolz ist auf sein Aussehen oder seinen Reichtum.«
»Nein, das ist es auch nicht so ganz«, sagte Alex.
»Was denn dann?«, fragte ich.
Er sah aus dem Fenster in die ewig graue Landschaft hinaus. »Na gut«, sagte er. »Vielleicht verstehst du’s besser, wenn ich dir von dem Münzglas erzähle. Wir mussten unsere Schuluniformen immer selbst bezahlen. Dafür hatte meine Mutter ein Münzglas. Jeden Abend mussten wir unsere Taschen ausleeren und alles Kleingeld, das wir noch hatten, kam in dieses Glas. Eines Tages hat sie meinen Vater dabei erwischt, wie er sich ein paar Münzen rausnahm, weil er ein bisschen Kleingeld für sein Bier brauchte. Da ist sie völlig ausgerastet. Das war der schlimmste Streit, den ich je zwischen den beiden erlebt habe. Meine Mutter wollte, dass aus uns was wird. Jeder Penny, den wir sparten, war für sie kostbar.« Er zögerte. »Mein Vater hat das Münzglas genommen und gegen die Wand geworfen, so dass die Münzen durchs ganze Zimmer flogen. Meine Mutter ist auf Händen und Knien rumgekrochen, um das Geld wieder einzusammeln. Aber Carlos, mein Bruder, hat mich auf den Boden gestoßen. Er hat gesagt, ich wäre an allem schuld. Ich wäre der Grund für ihren Streit.«
»Das muss schrecklich gewesen sein«, sagte ich. Selbst in ihren schlimmsten Zeiten haben Mom und Dad uns immer wieder gesagt, dass wir nicht schuld an ihren Problemen sind.
»Damals hab ich mir geschworen, mich nie wieder zu schämen«, sagte Alex. »Aber ich schämte mich nicht etwa, weil meine Eltern sich meinetwegen gestritten hatten. Sondern weil wir auf dem Boden rumkriechen und jeden einzelnen Penny einsammeln mussten, um Kleidung zu kaufen, die für andere Kinder selbstverständlich war. Am nächsten Tag hab ich mir Arbeit gesucht. Ich hab alles gemacht, was ich kriegen konnte, bis ich einen festen Job in einem Pizzaimbiss fand. Von da an hab ich meine Uniformen immer selbst bezahlt. Meine Bücher auch. Kein Münzglas mehr. Meine Mutter hat sich etwas anderes überlegt, um die Uniformen meiner Schwester zu bezahlen. Und ich war stolz. Stolz auf meine Intelligenz. Stolz auf den Respekt und die Aufmerksamkeit, die ich bekam. Stolz auf meinen Ehrgeiz. Stolz darauf, dass ich nicht so enden würde wie meine Eltern. Jetzt muss ich um Kleidung für meine Schwester betteln. Um jeden Bissen, den wir bekommen.«
»Hier musst du nicht betteln«, sagte ich. »Wir geben es gern.«
»Heutzutage gibt niemand mehr etwas gern«, sagte er.
Und dann sah Alex mich an. Oder ich ihn. Ich weiß nicht genau, wie es kam. Jedenfalls trafen sich unsere Blicke und einen Moment lang blickte ich ganz tief in seine Seele. Ich konnte alles sehen, das ganze Ausmaß seiner Trauer, Wut und Verzweiflung.
Ich bin auch oft traurig, wütend und verzweifelt. Es gibt wohl kaum noch jemanden, der das nicht ist. Manchmal fühlt es sich an, als würden Trauer, Wut und Verzweiflung genauso heiß in mir brennen wie früher die Julisonne.
Aber das war alles nichts im Vergleich zu dem, was ich bei Alex spürte. Seine Trauer, Wut und Verzweiflung brannten wie tausend Sonnen, wie eine ganze Galaxie von Sonnen. Es tat fast schon körperlich weh, ihm in die Augen zu sehen. Aber ich konnte den Blick nicht abwenden.
Schließlich schaute er als Erster weg und entschuldigte sich. Vielleicht hat er sich auch bedankt. Für Alex ist das, glaube ich, sowieso dasselbe.
Dann stürzte er aus dem Zimmer. Ich blieb allein zurück, starrte mein Bücherregal an und dachte an die Sünde des Stolzes, an die Sünde des Vorurteils und an all die anderen Sünden, die ich hinter mir gelassen hatte.
5. Juni
Dad und ich sind heute mit den Rädern in die Stadt gefahren, um mit Mr Danworth zu
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