Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
wie das Haus zu beben begann, erkannte ich, dass mir nicht mehr genug Zeit blieb, den Keller zu erreichen. Stattdessen rannte ich zu dem kleinen Schrank unter der Treppe, das Messbuch fest umklammert, als könnte es mich vor allem Unheil schützen.
Als wir noch klein waren, war es uns verboten, in diesem Schrank zu spielen. Aber er hatte genau die richtige Größe, um sich darin zu verstecken, und das hatte uns immer wieder in Versuchung geführt. Aber jetzt war ich groß und konnte dort drinnen nicht mal mehr stehen. Also kauerte ich mich zusammen und machte mich so klein wie möglich, damit der Tornado mich nicht finden konnte.
Ich spürte, wie um mich herum das Haus zusammenstürzte, und fühlte mich wie ein Spatz, der in ein Flugzeugtriebwerk gesogen wird. Das Geräusch war entsetzlich. Aber der Treppenschacht hielt stand, der Tornado zog weiter, und ich war noch am Leben.
Ich wollte die Schranktür aufdrücken, aber sie ließ sich nicht bewegen. Ich drückte fester und rammte die Schulter dagegen, aber nichts passierte. Dann drehte ich mich so weit herum, dass ich mich mit dem Oberkörper gegen die Tür stemmen konnte. Immer wieder warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen, aber die Tür blieb zu. Vermutlich lag zu viel Schutt davor aufgetürmt.
Ich war im Schrank gefangen, in diesem winzigen Raum unter der Treppe. Den Tornado hatte ich überlebt, aber jetzt wurde ich lebendig begraben. Wenn mich nicht bald jemand fand, würde ich ersticken.
»Hilfe!«, schrie ich. »Hilfe!«
»Miranda? Wo bist du? Alles in Ordnung?«
Die Stimme klang gedämpft, wie aus weiter Ferne. Dann begriff ich, dass es Charlie war, der aus dem Keller nach mir rief.
»Ich bin im Schrank unter der Treppe«, brüllte ich. »Ich kriege die Tür nicht auf. Ist bei euch alles in Ordnung? Lisa? Der Kleine?«
»Uns geht’s gut«, rief Charlie. »Nicht bewegen, Miranda. Und nicht reden. In einer Minute bin ich da.«
Ich zitterte vor Erleichterung. Charlie würde mich retten. Der Tod hätte das Nachsehen, wieder einmal.
Aber Charlie kam nicht. Ich hörte dumpfe Schläge gegen die Kellertür und ein Geräusch, das ich nicht identifizieren konnte, dann stieß Lisa einen Schrei aus.
Mir war klar, dass mein Rufen nur die dringend benötigte Luft verbrauchen würde, aber ich konnte nicht anders. »Was ist passiert?«, rief ich. »Lisa?«
Lisa antwortete nicht. Sie schrie nur: »Nein! Charlie, nein!«
»Charlie!«, rief ich. »Charlie, antworte doch!«
Aber es kam keine Antwort, nur Lisas und Gabriels Weinen, das klang, als hätten sie ihren besten Freund verloren.
Ich war zu bestürzt, um zu weinen. Irgendetwas Schlimmes war passiert. Aus irgendeinem Grund hatte Charlie es nicht geschafft, die Kellertür zu öffnen. Die drei saßen genauso in der Falle wie ich. Sie hatten ein Fenster da unten, deshalb würden sie nicht ersticken, aber wenn niemand kam, um uns rauszuholen, würden sie sterben, genau wie ich. Nur dass es bei ihnen etwas länger dauern würde.
Wenn Charlie nicht ohnehin schon tot war.
Und erst in diesem Moment wurde mir klar, dass auch alle anderen schon tot sein konnten. Ich hatte Mom und Syl nicht gewarnt. Vielleicht war Mom gerade im Wintergarten gewesen und Syl oben in ihrem Zimmer, als der Tornado über sie hereinbrach. Matt und Dad waren draußen beim Holzhacken. Und keiner wusste, wo Jon und Julie waren, ob Alex sie noch rechtzeitig erreicht hatte und ob das überhaupt noch etwas hatte ändern können.
Gerade hatte ich noch vor Erleichterung gezittert. Jetzt krampfte sich alles in mir vor Trauer und Entsetzen zusammen.
»Lisa! Lisa, alles in Ordnung?«
»Daddy«, brüllte ich. »Daddy, hilf mir!«
»Miranda?«, rief Dad. »Ich kann dich hören, aber ich weiß nicht, wo du bist.«
»Im Schrank unter der Treppe«, sagte ich. »Daddy, hol mich hier raus. Lisa und Charlie sind im Keller. Charlie ist irgendwas zugestoßen.«
»Alles wird gut, Miranda«, sagte Dad. »Ich bin jetzt im Flur. Deine Tür wird von einem Haufen Trümmer versperrt, deshalb geht sie nicht auf. Ich hol Matt und dann räumen wir den Schutt weg. Lisa, kannst du mich hören?«
»Hal!«, schrie Lisa. »Hal! Ich glaube, Charlie ist tot!«
»Ich kann nicht zu dir rein, Lisa«, sagte Dad. »Hier liegt alles voller Schutt. Ich hol jetzt Matt und dann graben wir erst Miranda aus und dann dich. Hast du gehört, Liebes? Geht es Gabriel gut?«
»Bitte«, schluchzte Lisa. »Hol uns hier raus, Hal, bitte.«
»Machen wir, Liebes«, sagte Dad.
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