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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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gehabt.«
    »Zwei Kinder und keine Frau mehr, da musst du dich wohl oder übel nach der Decke strecken«, sagt Mama.
    »Sein Dienstmädchen wird ja kaum teurer als unseres sein.«
    »Das ist keine Italienerin, das ist eine Haushälterin«, erklärt Mama in gereiztem Ton.
    »Und wo ist da der Unterschied«, fragt Papa.
    »Nach der Decke strecken, was heißt das, Mama?«
    »Sparen.«
    »Was hat das mit einer Decke zu tun?«
    »Du sparst eben, damit dir die Decke nicht auf den Kopf fällt.«
Nelli ist lieber Schauspielerin
als Praxisfräulein
    Gestern sind die Leute vom Theater nach der Vorstellung bei uns gewesen. Ich bin aufgewacht und habe die Tür einen Spalt weit geöffnet. Papa ist mit einer Frau im Korridor gestanden. Sie sind so nahe beieinander gewesen, dass ich Papa nur von hinten und von der Frau nur gerade den Kopf gesehen habe. Mit geschlossenen Augen hat sie Papa zugehört. Verstanden habe ich nichts.
    Die Frau heißt Nelli. Sie wird eine Zeitlang bei uns Praxisfräulein sein, weil sie Geld für die Schauspielschule braucht. Sie will auch Tanz- und Gesangsunterricht nehmen. »Du hast doch nicht etwa im Sinn, ihr mehr zu zahlen als der letzten?«, fragt Mama.
    Papa ist überzeugt, dass der federnde Gang dieser Nelli vom Ballett herrührt. Mir täte etwas Ballett auch gut, findet er. Anton und ich bringen Koni Nellis federndes Gehen bei. Er kann gar nicht mehr aufhören, auf seinen Plattfüßchen durchs Kinderzimmer zu tänzeln.
    Allen ringsum habe ich es erzählt: Papa ist heute in der Turnhalle, und ich darf als einzige Kindergärtlerin mit dabei sein! Doch Anton wartet nicht bei den Kletterstangen auf mich, wie er müsste. Er spielt hinter den Veloständern mit Freunden Murmel und will nicht kommen, bevor er seine Lieblingskugel zurückgewonnen hat. Ich muss mich in den Stuhlreihen zwischen Größere setzen, die ich nicht kenne. Erst im letzten Moment, es ist schon dunkel in der Halle, schlüpfen die Buben durch den Türspalt. Im Film machen sich Mickymäuse bei Schleckmäulern mit lauten Straßenbohrern ans Werk. Sie bohren so lange Löcher in ihre Zähne, bis die Kinder statt nach Süßigkeiten zur Zahnbürste greifen und sorgfältig zu putzen anfangen. Unterdessen laufen die Mickymäuse mit geschulterten Bohrern und wütenden Fratzen davon.
    Kaum ist das Licht angegangen, kommt Papa in seiner grauen Kleidung und mit der gestreiften Krawatte auf die Bühne. Hinter einem schmalen Stehpult beginnt er in seinem Walliserdeutsch zu reden. Weil die Kinder nicht still sind, ruft er: »Rüe jez!« Als er das zweite Mal »Ruhe!« in den Saal ruft, stößt mich der Bub neben mir mit seinem Ellbogen in die Seite und grinst. Mir wäre lieber, der Redner wäre nicht mein Papa.
    Abends ist Papa schlecht gelaunt. Das Tischgebet lässt er aus. Ich bin erleichtert, als er Mama erklärt, das sei das erste und letzte Mal gewesen, dass er diesen Gofen einen Vortrag gehalten habe. Er will nicht länger in Zuchwil bleiben, wenn er die Schulzahnpflege nicht abgeben kann.
    Und ich will nicht länger in den Kindergarten, wenn ich diese blöden Strumpfhosen anziehen muss. »Sie rutschen immer runter, aber ich will den Spickel ganz oben haben!«
    »Jetzt ist genug, tu nicht immer so heikel, dü ständigi Reklamiereri!«
    Im Kindergarten bitte ich Fräulein Gloor, mir die Strumpfhose hochzuziehen. Sie lacht und hebt mich während des Hochziehens vom Boden ab. Zufrieden gehe ich zurück in die Ecke zu den Puppen.
    Dass mich auch die wollenen Pullover kratzen, sage ich bloß Tina. Sie zieht mir deshalb unter dem Pulli eine Bluse an. »Sai«, erkläre ich ihr, »bei den Händen muss die Bluse immer etwas hervorgucken, damit es auch dort nicht kratzt!«
    Aber Tina ist schon mit Koni beschäftigt, der alle Kleider aus dem Regal herausgerissen hat. Also laufe ich zu Mama. Sie ist am Telefon. Ich strecke meine Arme aus, »schau, Mama, schau doch!« Die Hände halte ich genau nebeneinander vor sie hin zum Beweis, dass der Pullover links die Bluse verdeckt. Während sie weiterredet, zieht sie mir auch den rechten Pulloverärmel nach vorne. Ich beginne zu weinen.
    »Di Meitja bringt mich noch zer Verzwiflig«, flüstert sie in die Muschel.
    Die Ballettschule befindet sich im Stadttheater ganz oben unterm Dach. Ein Mann mit einer grauen Schürze führt Mama und mich über viele Treppen und durch verwinkelte Gänge hinauf in einen schmalen Saal. Er ist hell beleuchtet, am Spiegel, der die längere Wand bedeckt, ist eine Stange montiert. Da

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