Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
Vom Netzwerk:
schweigen, bis wir draußen sind. Im Auto wiederhole ich die Frage.
    »Es sind eben Arbeiterleute«, antwortet sie, »eifachschti, aber liebi Lit.«
    »Und die haben so eine schöne Tochter?«
    »Schönheit hat doch nichts mit Geld zu tun. Auch nicht mit Talent.«
    »Wie meinst du das?«
    »Nur so.«
    Sie zündet sich eine Zigarette an.
    »Wie lange bleibt Nelli im Ausland?«
    Mama schaltet das Radio an.
    Dieses Wochenende reisen Mama und Papa mit einem Ehepaar vom Tennisplatz nach Lugano. Weil Brückners keine Kinder haben, sind sie für alles zu haben, sagt Mama, auch spontane Ideen finden sie gut. Sie ist stolz, dass das Reisegepäck aus einem einzigen kleinen Koffer besteht.
    »Ist für mich auch was drin«, fragt Papa gut gelaunt und legt den Koffer auf die Hintersitze. Er schaut auf die Uhr, Unpünktlichkeit hasst er. Doch da kommt das grüne Auto auch schon den Tannenweg heraufgefahren.
    Mama trägt ihr neues Blumenkleid, und Papa hat ein paar Hosen aus der Praxis an. Weiß ist jetzt Mode.
    Mama steigt bei Herr Brückner ein und Frau Brückner bei Papa. Ich spiele Polizist und winke die beiden Autos aus unserer Einfahrt heraus.
    Nach dem Kindergarten warte ich auf Fräulein Gloor. An ihrer Hand durch die Schulhausstraße zu gehen, ist so schön, dass ich bei der Molkerei lüge, ich müsse noch nicht abbiegen. Doch der Umweg ist länger als gedacht. Nach ihrem »Tschüss« muss ich das letzte Stück rennen, um nicht wieder zu spät daheim zu sein.
    Vor unserem Block steht das schwarze Auto mit dem Kreuz auf dem Dach, dahinter redet der Dorfpolizist mit zwei Herren.
    »Was machst du hier«, fragt mich im Treppenhaus ein fremder Polizist. Er sieht so streng auf mich herab, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Ohne etwas zu sagen, dränge ich an ihm vorbei hinauf in unsere Wohnung.
    Mama ist nicht zuhause, ich stürme in die Praxis und ins Sprechzimmer.
    Papa setzt den Bohrer ab. »Was willst du?«
    »Das Totenauto ist vor dem Haus – und Polizisten!«
    Papa tritt zum Fenster. »Bleib hier, ich bin gleich wieder zurück!«
    Die Patientin schielt mit offenem Mund meinem davoneilenden Papa nach. Ich renne hinterher. Noch auf der Treppe fängt er mich ab. »Geh in die Wohnung und komm nicht mehr heraus!«
    Beim Mittagessen teilt uns Papa mit, dass der Herr Seidel tot ist.
    »Ganz tot?«
    »Wie denn sonst«, sagt Anton.
    »Warum ist er gestorben?«
    »Warum, warum, warum! Das weiss man doch nicht!«
    Papa wirkt wütend. Aber anders, als wenn Anton und ich uns streiten.
    »Hätten wir es verhindern können«, fragt Mama.
    »Ja, sicher. Nein, natürlich nicht. Vielleicht. Wer sieht schon in einen anderen hinein …« Papa hebt die Achseln.
    »Lustig gewesen ist er eigentlich nie«, sagt Mama.
    »Lustig, lustig. Lustig! Muss man denn immer lustig sein?!«
    Ich bin froh, dass uns Mama zu Tina in die Küche schickt, ich fürchte, jetzt bekommen sie wegen Herrn Seidel noch Streit.
    Tina weiß einiges. Als sie am Morgen das Treppenhaus fegte, roch es im Parterre nach Gas. Sie hat beim Arzt geläutet – und dann ging die Aufregung los, »un casino!« Im Flüsterton ergänzt Tina, »credo che si sia ucciso.«
    Antonetta, das Mädchen mit den italienischen Eltern, erklärt mir auf dem Weg zum Kindergarten, was das heißt: »Dieser Mann hat sich selber getötet!«
    »Wirklich?! Stimmt es wohl«, frage ich weiter, »dass Selbstmörder nicht feierlich beerdigt werden? Meine Großmama hat mal so etwas gesagt.«
    Antonetta weiß es nicht.
    Abends im Bett sagt Anton: »Die werden einfach vor dem Friedhof verscharrt.«
    »Wollen wir für Herrn Seidel etwas beten?«
    »Ja«, sagt er, »aber jeder für sich.«
Lachgas ist nicht zum Lachen
    Großmama ist mit Tanta Amanda und Tanta Isabella nach Bern an die Monbijoustraße gezogen. Gerade gegenüber der Fabrik Wander, von wo unsere
Ovomaltine
herkommt. Tanta Isabella ist Chefsekretärin beim Direktor, Tanta Amanda arbeitet bei einem Anwalt. Großmama ist in Bern weniger glücklich als im Wallis. Aus Heimweh nach Visp geht sie jeden Morgen in die Dreifaltigkeitskirche zur Frühmesse. »Bei Gott fühlt man sich immer zuhause«, sagt sie. Die Wohnung ist im dritten Stock. Vom Balkon und Salon aus sieht Großmama ins Grüne, »das tut der Seele gut.«
    Wir besuchen die Berner jeden Mittwoch. Großmamas weicher Walliserbraten mit Kartoffelstock und Apfelmus ist mein Lieblingsessen geworden. Reste lassen wir nie übrig. Beim Kaffee beginnen die Erwachsenen zu jassen, ich wasche

Weitere Kostenlose Bücher