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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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zweites Lied stimmt Großmama
Oh Tannenbaum
an, danach
Oh du Fröhliche
. Und endlich kommen die Päckli dran! Das an Papas Bücherwand gelehnte Fahrrad hat Anton natürlich längst gesehen. Es hat einen Blufferlenker, genau den, den er sich gewünscht hat. Das Geschenkpapier sollen wir beim Öffnen nicht zerreißen, Großmama will es später bügeln. Sie wickelt auch die hübscheren Bändel auf, »nächstes Jahr kann man das wieder verwenden.« Nachdem auch die Großen ihre Geschenke geöffnet haben, gibt’s Schoggikuchen. Großmama nimmt keinen Bissen. Sie will zur Kommunion und muss vorher drei Stunden nüchtern sein.
    »Sie können doch auch morgen kommunizieren, Mama!«
    »Nein«, sagt Großmama, »ein richtiger Katholik geht in der Mitternachtsmesse zur Kommunion.«
    Obwohl es schneit, probiert Anton gleich sein Fahrrad aus. Sogar Papa macht eine Probefahrt durch die wirbelnden Schneeflocken. Das ist ein Riesenspaß, nie zuvor haben wir Papa auf einem Fahrrad gesehen.
    In die Kirche kommen wir zu spät, Mama und ich zwängen uns in die zweithinterste Frauenbank. Großmama trippelt, ohne auf uns zu achten, mit gefalteten Händen durch den Mittelgang. In einer der vordersten Reihen macht ihr eine jüngere Frau Platz.
    »Siehst du, das ist Anstand«, flüstert Mama.
    Es hat so viele Leute, dass einige an den Seitenwänden stehen müssen. Acht Messdiener knien am Altar. Der Vikar dreht dem Pfarrer die Seiten des Messbuchs um, zwischendurch schwenkt er das silberne Weihrauchgefäß – hoffentlich wird mir nicht schlecht. Ich lehne mich an Mama, die bereits eingenickt ist.
    Die Tanten schlafen im Besucherzimmer, und Großmama schläft bei mir. In der Nacht schleicht sie sich zweimal in unser Kinder-wc. Um niemanden zu wecken, spült sie nicht. Mir graust das. Am Morgen gehe ich erst aufs Klo, nachdem Großmama ihr Pipi weggespült hat.
    Beim Frühstück sehen wir uns nochmal die Weihnachtsgeschenke an. Mein Bisibäbi sitzt auf meinem Schoß und schaut vergnügt auf die feine Zopfschnitte. Mama fordert mich auf, Onkel Raouls Geschenk an den Tisch zu holen. Widerwillig stehe ich auf. Statt
Pünktchen und Anton
hat er mir ein Malbuch geschenkt.
    »Dafür bin ich doch viel zu groß!« Weil niemand reagiert, sage ich noch: »Und bedanken werde ich mich auch nicht.«
    »Dann wirst du nächste Weihnacht gar nichts mehr bekommen!«
    »Ist mir doch egal!«
    »Halte jetzt endlich dein freches Maul, sonst gehst du am Abend ohne Essen ins Bett«, warnt Papa.
    Ich spüre alle Blicke auf mir, ich schaue schon gar nicht mehr auf. Ohne Essen ins Bett ist schlimm.
    »Ja«, sagt Mama, »schau nur deine wüsten Finger an! Wenn dir das Christkind die Puppe trotzdem gebracht hat, so deshalb, damit du endlich mit dieser dummen Gewohnheit aufhörst!« Als sich alle bereit machen, um Großpapa vom Bahnhof abzuholen, rühr ich mich auf der Treppe nicht von der Stelle. Weil Großmama mich drängen will, sagt Mama, sie solle mich ignorieren, »äs pofft wider e mal!«
    »
Siehst du«, sage ich zum Bisibäbi, »so macht man das«: Ich halte den Daumen an die Zähne, zerre ein Nagelhäutchen weg und ziehe es nach hinten weg, bis es blutet.
Anton muss ins Kollegium und Ursel in die Rosegg
    Man merkt ihm nichts an. Anton liest während der Fahrt und tut so, als würden wir irgendeinen Ausflug machen. Die Seite seines Karl May-Buchs hat er aber schon eine ganze Weile nicht gewendet. Mir bleiben gottlob noch ein paar Jahre bis zum Institut. Ingenbohl. Auch wenn Mama dort war, ich will da nicht hin. Anton muss ins Kollegium nach Stans und nicht nach Schwyz, weil Papa von Schwyz ein Trauma hat. Doch letztlich seien alle Internate etwa gleich, sagt er, als wir durch ein offenes Eisentor auf den Platz des St. Fidelis fahren. Ein Riesengebäude! Zwischen anderen Autos sind andere Eltern mit Kindern und mehrere Patres in den langen braunen Kutten, wie sie auch die Solothurner Kapuziner tragen. Der Präfekt begrüßt Anton mit einem Handschlag, vor Mama verbeugt er sich leicht und Papa begrüßt er mit einem lateinischen Spruch. »Aha
«,
sagt er zu Konrad und mir, »und ihr seid die Geschwister!« Wie er sich nun zu uns bückt, reicht ihm sein Bart bis zum Bauch. Der, der uns in den Schlaftrakt führt, hat eingefallene Wangen, auch seine Hände sind dünn wie die eines Skeletts. Koni verdrückt sich hinter Mama. Nicht mal lächeln kann dieser gespenstische Mann, dabei hat ihm Papa etwas Lustiges aus seiner Kollegiumszeit erzählt. Anton wird also in

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