Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
dort bleiben. Wir werden mit ihrem Caravan und einem Vorzelt nach Italien fahren …
»Das ist so weit weg, und das ist ja dreimal Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag …«
»Mit deinen Cousins hast du es bestimmt lustig«, sagt Mama. Und als ich beim Abschied zu heulen beginne: »Hör schon auf, sei ein liebes Mädchen, stell dir vor, du wirst zum ersten Mal das Meer sehen!«
Onkel Valentin ist mein Lieblingsonkel, und für Tanta Iris bin ich »s Schazzji«, auch Andrea, mein ältester Cousin, ist moorz lieb zu mir. Trotzdem suche ich jeden Morgen zwischen den Zelten und Campingwagen nach einem Auto mit einem Wappen von Solothurn.
Das Schönste an Italien ist das Kino. Es ist draußen, richtig draußen, und während des Films kann man die Sterne sehn, gestern haben wir sogar Vollmond gehabt! Ich bin bei diesem
Quo Vadis
allerdings nicht nachgekommen und schon in der Pause eingeschlafen. Beim Frühstück erzählt mir Tanta Iris die Geschichte so, dass ich sie verstehe. »Also«, erklärt sie zum Schluss, »indem die schöne Sklavin ihren Marco im allerletzten Moment bekam, hat der Film doch noch glücklich geendet.«
»Und Nero hat der Welt ›valete‹ gesagt«, ergänzt Onkel Valentin.
»Was heißt das?«
»Dass sich Nero eben umgebracht hat.«
»Bei uns haben sich auch zwei umgebracht, der Herr Seidel und der Herr Vonauen.«
»Wer erzählt dir solchen Quatsch!« Tanta Iris wirkt verärgert. Nach über einer Woche habe ich Glück: Dort steht ein Opel mit einem Solothurner-Schild! Eine ältere Frau und ihr Mann sitzen an einem Campingtisch. Sie tun nichts, nicht reden, nicht lesen, nicht spielen. Vielleicht haben sie Krach.
»Guten Tag, Entschuldigung, aber ich möchte etwas fragen: Wann geht ihr wieder heim? Darf ich mit euch heimkommen?«
Die Frau bringt mich zu Tanta Iris. Danach sagt Tanta Iris, ich soll ihr zuliebe nicht mehr traurig sein.
An diesem Nachmittag fällt mir das leicht: Onkel Valentin macht auf dem Zeltplatz vor vielen Leuten ganz allein eine Modenschau. Es ist heidenlustig, wie er dauernd in neuen Verkleidungen aus dem Caravan kommt: Mal füllt er Peperoni in Tanta Iris’ Büstenhalter, mal erscheint er mit Küchentüchern um die Taille auf Stöckelschuhen, dann wieder hat er um seinen dicken Bauch einfach ein Bettlaken geschlagen, jetzt trägt er einen Schwimmring als Hut, tief auf der Nase sitzt eine Sonnenbrille, aus dem Mundwinkel schaut eine Zigarette … Immer mehr Leute sehen zu, sie klatschen und pfeifen und rufen »Bravo« vor Vergnügen …
Bis Tanta Iris vom Einkaufen zurückkommt. Völlig entsetzt zwängt sie sich durch den Kreis der Fremden und zieht und stößt ihren Mann weinend in den Caravan. Beim Essen befiehlt sie den Buben und mir, mit dem Aufräumen zu beginnen. Wir fahren früher heim als geplant.
Mama hat lange mit Tanta Iris telefoniert. Nun redet sie mit Papa französisch.
»Ist es wegen mir?«
»Aber nein, du bist während der ganzen Ferien lieb gewesen, hat sie gesagt.«
»Was ist denn nicht gut?«
»Alles ist gut. Tanta Iris hat bloß mitgeteilt, dass Onkel Valentin wieder in die Klinik musste.«
»Weshalb, ist er krank geworden?«
»Nein, nein. Er geht nur zum Abnehmen in die Klinik, das hat er früher auch schon getan.«
Am Nachmittag höre ich, wie Mama einer Tanta am Telefon erklärt, Onkel Valentin habe wegen »Pressionen« in die Klinik müssen. Es hat getönt, als ob das sehr schlimm wäre. Bloß wegen Onkel Valentins dickem Bauch? Das kann doch nicht sein; auch Papa nimmt ab, ohne in eine Klinik zu gehen.
Die Eltern sehen sich mit Anton das Kollegium in Stans an.
»Und ich soll alleine zur Fronleichnam-Prozession? Das ist todlangweilig!«
»Kannst ja Kläri fragen, ob sie mitkommt.«
»Sie ist doch reformiert.«
Mama blickt verunsichert zu Papa. Der aber findet nichts dabei.
Der feierliche Umzug von Menschen, länger als von der Kirche bis zum Velohändler, bewegt sich kaum vom Fleck. Wir Mädchen mussten uns ziemlich weit hinten einreihen, vom Baldachin sehen wir nur das weiße Stoffdach.
»Darunter trägt der Pfarrer die Monstranz.«
»Was ist das«, fragt Klara.
»Das ist das Wertvollste, das ist der Kelch mit den Hostien, weißt du, diese runden Dinger, der Leib Christi eben.«
»Der ganze Leib?«
»Nein, natürlich nur ein winziger Teil davon. Die Hostien sind hauchdünn, sonst würde es doch nicht für die ganze Welt ausreichen!«
»Wie viele Altäre gibt es?«
Die Dorfmusik erspart mir die
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