Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
diesem mächtigen Saal schlafen. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Kleiderschrank, sonst nichts, jede Kammer von der nächsten durch eine Holzwand abgetrennt, zum Gang hin hängen weiße Vorhänge. »Nach dem Lichterlöschen gilt für alle Silentium«, erklärt das Knochengestell.
Anton kommt vors Tor und winkt unserem Auto nach.
Nun sind wir daheim nur noch zwei Kinder.
»Ist ein Trauma schlimm, Papa?«
»Ich kann dir das nicht erklären, dafür bist du noch zu klein.«
»Kann das ein Kind auch bekommen?«
»Äch wa, Chiner sind stark und gsund.«
»Sei jetzt still, Schazzji, Papa muss sich auf die Straße konzentrieren.«
Papa bringt Mama zum Hochzeitstag einen Strauß Rosen. Sie bekommt immer diese dunkelroten, wenn es etwas zum Feiern gibt. Aber heute tut Mama, als wäre dieses Geschenk viel mehr als nur Blumen. Sie stellt die Rosen einzeln in die Vase, und bei fast jeder Rose wiederholt sie, »merci Schpazzji, merci vil mal!« Ich bin froh, dass sie miteinander so lieb sind. In den letzten Tagen sind sie nämlich ziemlich seltsam gewesen. Ich hatte das Gefühl, sie würden nur gerade das Nötigste zusammen reden.
Bevor die Eltern zum Znacht ins Attisholz fahren, öffnen sie eine Knall-Flasche. Koni und ich dürfen in dem feinen Getränk mal die Zunge baden, »aber passt auf die Gläser auf!«
»Ätsch!«
»Grusig!«
»Das ist halt ein Brut«, lacht Mama, »der hat keinen Zucker. Seht, hier auf dem Etikett steht Brut.«
»Kommt das von brutal?«
Koni lacht so saublöd, dass ich mich schäme. Aber Papa nimmt mich in Schutz. »Vielleicht hast du gar nicht so Unrecht. Wenn du zu viel davon trinkst, haut er dich tatsächlich um! Gell, Schpazzji, so ist es?«
Papa zaubert aus seinem Kittel ein dünnes, längliches Päckli.
»Ein Kugelschreiber?«
»Nein, ein Büchsenöffner.«
Mama weiß natürlich, dass ihr Papa nie so etwas Dummes schenken würde. Papa gibt ihr seine Nagelschere, damit sie’s schneller aufbekommt.
»Ein Bisserli!«
»Ja, es ist wirklich das eleganteste, das ich finden konnte. Bis zum schwarzen Mundstück hier ist es vergoldet!«
Mama steckt eine Zigarette hinein, lässt sie sich von Papa anzünden und nimmt einen tiefen Zug. »Es vermindert den Geschmack schon etwas«, findet sie.
Nachdem auch Papa probiert hat, gibt er ihr recht. »Aber damit ist das Rauchen gesünder, ich werde mir auch eines kaufen.«
Jetzt darf Papa Mamas Aschenbecher auspacken. Er betrachtet das Gemalte genau, geht hinüber zum Sessel, auf dem Blitz sitzt, streichelt den Hund und lächelt: »Du hast ihn wirklich so elegant und stolz hingekriegt, wie er ist! Ein wunderbares Tier, er …«
Ein Geschrei erschreckt uns. Das Gebrüll kommt aus der Küche – und schon stürmt Ursel mit einem entsetzlichen Krach mitten durch die Glastür in den Salon herein.
»Ursel! Was ist los, was ist passiert!?«
Papa hilft ihr auf die Beine.
»Da war einer hinter mir her«, schluchzt sie, ihr Gesicht und ihre Hände sind voller Blut. Splitter der zertrümmerten Scheibe sind bis auf die Couch geflogen.
Während Mama Ursel verbindet, sollen Koni und ich uns zum Nachtessen etwas aus dem Kühlschrank nehmen. Die Eltern verschwinden mit Ursel im Herrenzimmer. Wir hören Papa telefonieren.
Mama hat ihr festliches Kleid wieder ausgezogen; sie fahren heute nicht mehr fort. »Geht brav ins Bett, morgen werde ich euch alles erklären.«
Ich schlafe bei Koni.
Am Morgen weckt uns Mama selber. Ursel ist nicht mehr bei uns. Das gelbe Wägeli hat sie noch gestern Abend abgeholt.
»Das Roseggwägeli?«
»Ja.«
»Wirklich das Wägeli für die Verrückten?«
»Ja.«
»Wie lange muss sie in der Rosegg bleiben?«
»Das wissen wir nicht. So bald als möglich wird sie heimgebracht, zurück zu ihrer Familie in Bayern.« Und das Wichtigste sei jetzt, betont Mama, so schnell wie möglich ein neues Dienstmädchen zu bekommen.
In der Schule erzähle ich das mit Ursel meinen Freundinnen. Mama ist überrascht. Ich hätte das nicht tun dürfen. »Was hast du ihnen denn gesagt?«
»Dass Ursel fort ist.«
»Und?«
»Dann haben sie gefragt, wohin und weshalb.«
»Und was hast du ihnen geantwortet?«
»Dass sie verrückt geworden ist und nun in der Rosegg ist.«
»Das hast du denen wirklich gesagt!?«
»Ich habe sie doch nicht anlügen können.«
»Es ist noch lange keine Lüge, wenn man nicht immer alles sagt, was wahr ist! Wie haben sie reagiert?«
»Gestaunt haben sie, Rosi hat es gar nicht glauben wollen … Und Antonetta hat
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