Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
vorstellt, ist sie hübscher gekleidet als Mama. Auch ihr Verlobter ist eindeutig ein Herr. Wie Gerlinde bei uns einzieht, trägt er ihr die Koffer ins Zimmer, danach trinkt Mama mit den beiden im Salon Kaffee.
Die Briefe von Anton gefallen den Eltern nicht, sie haben zu viele Fehler. Heute aber liest uns Mama etwas daraus vor, das sie amüsiert: »Ich spiele jetzt nicht mehr Klavier, sondern lerne Maschinenschreiben.« Mama versteht Anton gut, sie wurde als Kind selbst sechs Jahre lang zu Klavierstunden gezwungen, »schrecklich!« Ihr angewidertes Gesicht lässt Papa lachen. Der Augenblick scheint günstig, und trotzdem scheitere ich mit meiner Bitte, der Jugendriege beitreten zu dürfen. Turnen könne ich später, sagen die Eltern. Ballett reiche völlig. Sie wollen mich jetzt im katholischen Blauring haben. Kaum ist Papa weg, dopple ich bei Mama nach: »In der Mädchen-Pfadi sind nur die zwei Blödesten aus meiner Klasse.«
»Hör jetzt endlich auf!«
»So eine blöde Blauring-Bluse ziehe ich nicht an! Ich will ein Pfadihemd wie die Buben.«
»Was bisch dü nur ferä furchbare Sezzchopf!«
Ich laufe Mama davon, aus dem Haus und den Tannenweg hinauf … Sie folgt mir nicht, sie ruft mich auch nicht zurück. Ich werde die ganze Nacht im Wald bleiben, so lange, bis sie richtig Angst haben um mich!
Da, wo der breite Weg in den Pfad zur Feuerstelle mündet, steht ein Auto mit offener Tür, ich muss ins Gestrüpp ausweichen. Am Steuer sitzt ein Mann ohne Hosen, mit seinen Händen fummelt er an etwas herum und gleichzeitig sieht er mich an – wie ein Menschenfresser starrt er mich an!
Ich verfange mich im Geäst, falle hin, rapple mich auf, springe, so schnell mich meine Beine tragen, wieder heim. Was für ein Glück: Das Garagentor ist offen! Obwohl ich niemanden höre, trockne ich mir sicherheitshalber die tränennassen Wangen. Ich setze mich unter die Kellertreppe auf die alten Zeitungen und sage, »es ist nicht wahr, ich habe das nur geträumt.« Ich sage mir so oft, »es ist nicht wahr, ich habe das nur geträumt
«
, bis ich sicher bin, dass es nicht wahr ist und dass ich das nur geträumt habe. Aber so ganz sicher bin ich trotzdem nicht.
Je mehr ich mich anstrenge, nicht mehr an ihn zu denken, desto deutlicher sehe ich den Mann vor mir. »Der Johann Peter Hebel het zwüsche de Bei e Chnebel …« Diesen Spruch habe ich in der Klasse in Umlauf gebracht. Wie konnte ich bloß! Dem normalen Nachtgebet hänge ich zusätzliche fünf Vaterunser an. Gottlob ist morgen Herzjesufreitag: Neunmal hintereinander am ersten Freitag im Monat kommunizieren, und dann ist einem der Himmel garantiert – siebenmal hab ich es schon geschafft.
Noch bevor mich Gerlinde weckt, bin ich wach. Hellwach. Und schon wieder ist der grausige Mann da! Auch auf dem Weg, ja sogar in der Kirche will er mir nicht aus dem Sinn. Doch mit ihm im Kopf wage ich es nicht, zur Kommunions-bank zu treten, lieber beginne ich nächsten Monat mit der Zählerei von vorne. Man darf es ja immer wieder aufs Neue versuchen. Großmama hat sich den Himmel schon mehrfach verdient. Was Großpapa angeht, darf man ihn solches nicht fragen. Als Papa mit ihm über etwas Katholisches diskutieren wollte, hat er ihm einfach das Wort abgeschnitten: »Entweder man glaubt – oder man glaubt nicht.«
Am Herzjesufreitag dürfen Rosi, ihre Schwester und ich immer bei der Dirigentin des Frauenchors frühstücken. Weil sie nur den Ernst hat, den sie »Ernsteli« nennt, macht es ihr wahrscheinlich Freude, zur Abwechslung normale Kinder am Tisch zu haben. Anstelle des Gebets müssen wir bei ihr vor dem Morgenessen singen, heute
Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn
. Ernsteli grölt einfach irgend etwas mit. Mama findet, wir sollten die Frau und ihren Bub mal einladen. Doch Papa will keinen Mongoloiden am Tisch.
Auch Rosi und ihre Schwester haben noch nie einen Mann nackt gesehen. Frauen hingegen schon. Rosi beschreibt mir, wie die Brüste ihrer Mutter ausschauen. Wenn sie keinen Büstenhalter trägt, reichen die bis auf den Bauch hinunter. »Und deine Mutter? Die ist doch ganz schlank … Sag nicht, du hättest sie noch nie blutt gesehen!«
Um auch etwas beitragen zu können, verrate ich, dass Mama am liebsten schwarze Unterwäsche trägt, »mit Rüschen, an manchen ist ein winziges rosa Stoffröschen angebracht.«
Bevor wir uns vor den Schulzimmern trennen, müssen beide mit den Fingern schwören, das mit dem Mann im Wald geheim zu halten. Hinter meinem Rücken höre ich
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