Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
gesagt, jetzt müsse halt auch meine Mutter mal schaffen.«
»Typisch!«
Papa findet das lustig. Mama steht wortlos auf und holt in der Küche den Walliserfleischkuchen. Als sie ihn aufschneidet, sehe ich, dass sie sich am Ofen die linke Hand verbrannt hat. Die längliche Wunde ist fast so rot wie ihre Fingernägel. »Mami, tut’s weh?«
Sie nässt die Stelle kurz mit ihrer Zunge und lächelt schon wieder.
Mama nimmt uns mit zum Einkaufen. Wir brauchen ein Schweinsfilet, Herr und Frau Brückner kommen abends zum Essen. Papa will ihnen den Film über ihre gemeinsame Reise nach Venedig zeigen. Bei unserem Eintreten ist der Metzger eben daran, ein großes Fleischstück über einen Haken zu zerren. Sofort zieht er seinen dreckigen Überschurz aus und wendet sich mit schrägem Kopf Mama zu. »Ah, die Frau Doktor ist auch wieder mal da. Schon lange nicht mehr gesehen! Wohl in den Ferien gewesen? Was darf’s denn sein?«
Nachdem Mama bezahlt hat, reicht der Metzger Koni und mir je ein dickes Cervelaträdli.
Draußen ärgert sich Mama über die Frechheit des Metzgers.
»Warum? Wir haben von ihm doch Wursträdli bekommen!«
»Hm, der hat wohl ein schlechtes Gewissen, dass er mir Vorwürfe macht, ich würde zu viel in der Stadt einkaufen. Üsserschwizerpiffel!« Ärgerlich schlägt Mama die Autotür zu.
Zum Dessert wollen wir diese neue Art Vermicelles ausprobieren: In der Molkerei gibt es ein Plastikrohr mit fertigem Kastanienpüree, daraus müssen die Würmchen bloß noch herausgedrückt werden, »dann sieht’s wie selbstgemacht aus«, erklärt Mama. Das Fräulein schlägt uns mit ihrem elektrischen Rührwerk auch gleich den Rahm steif.
»Mami«, sagt Koni im Auto, »das Fräulein da drin hat aber nicht Frau Doktor zu dir gesagt!«
»So ist es eben, die Verkäuferinnen haben heutzutage immer weniger Anstand.«
»Ist sie eine Halbstarke?«
»Nein, halbstark sind nur Männer.«
»Das sind die mit den Lederjacken auf den Mopeds, gell Mama.«
»Ja«, sagt sie, »die machen James Dean nach.«
»Wer ist das?«
»Ein autoverrückter Filmstar aus Amerika.«
»Wenn ich groß bin, will ich auch ein Halbstarker sein!«, verkündet Koni. Während er weiterplappert, macht Mama
»psst!«. Sie schaltet das Radio lauter.
»Jetzt hört mal dies! Das gibt’s doch nicht!«
Beim Apéro erzählt Mama unseren Gästen, was sie zufällig im Radio gehört hat. »Da erklär ich den Kindern, wer James Dean ist – und im gleichen Augenblick kommt die Meldung von seinem Tod!«
Frau Brückner staunt nicht. »Solche Zufälle gibt’s! Jetzt müsst ihr hören, was mir neulich passiert ist: Beim Wäschesortieren kommt mir das gestickte Taschentuch in die Hände, das meine Freun …«
»So komm schon zur Pointe«, drängt ihr Mann.
»Also, ich denke an diese Freundin, da läutet das Telefon, und wisst ihr, wer dran ist?«
»Ja, meine Liebe«, sagt Herr Brückner, »wir können es uns denken.« Er nimmt einen Schluck Absinth, streicht sich mit dem Handrücken über die Mundwinkel und erzählt nun einen politischen Witz nach dem anderen.
Es ist so langweilig, dass Koni und ich versuchen, Mama entsprechende Zeichen zu geben. Endlich unterbricht sie Herrn Brückner: »Du, die Kinder sollten bald mal ins Bett. Deshalb würden wir euch eigentlich gerne noch vor dem Essen nach Venedig entführen.«
Während Papa den Projektor richtet und die Leinwand aufstellt, rücken wir die Sessel so hin, dass wir schließlich wie Kinobesucher in eine Richtung schauen. Koni und ich sitzen auf Küchenschemeln in der hinteren Reihe.
Ich sehe den Venedigfilm schon zum zweiten Mal: Wieder sitzt Mama mit Herrn Brückner in der Gondel, und während Frau Brückner mit Papa Arm in Arm über die Piazza San Marco geht, nimmt er einen Schleck von ihrer Glacé, sie gibt ihm ein Küsschen dafür … Soll die doch ihren eigenen Mann küssen! Als die Erwachsenen zum Essen nach nebenan gehen, müssen Koni und ich uns verabschieden. Frau Brückner schlägt vor, wir könnten sie Marie-Claire nennen, sie wünscht uns »süße Träume«.
Mama kommt nur rasch Gutnacht sagen.
»Warum sind Frau Brückner und ihr Mann miteinander so komisch? Und Papa macht sie ständig schöne Augen.« Weil Mama nicht reagiert, sage ich noch, »diese blöde Marie-Claire-Kuh! Niemals sage ich Tanta zu der.«
»Du bist müde, schlaf jetzt!«
Der Mann ohne Hosen
Gerlinde kommt aus Österreich. Sie sieht überhaupt nicht wie ein Dienstmädchen aus. Eher wie eine Dame. Als sie sich
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