Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
ein – ich komme gar nicht dazu, auch etwas zu sagen. Sie will bei mir schlafen, am liebsten im Sechserzimmer unterm Dach, da kann man so laut sein, wie man will. Das Haus ist alt und hellhörig. Der Verein der Leute, die nicht trinken oder nicht mehr trinken, hat es vor zwei Jahren gekauft.
»Säuft dein Vater?«
»Warum sollte mein Vater denn saufen?!«
»Weil oft Kinder in der Ferienkolonie sind, die aus Problemfamilien kommen. Denen wird alles von der Gemeinde bezahlt.«
»Mir aber nicht, mein Vater ist Zahnarzt.«
»Meiner ist Diplomat.«
»Was ist das für ein Diplom?«
Ihr Glucksen lässt die beiden Buben vor uns verwundert zurückblicken.
»He, du, das kommt doch von diplomatisch. Aber mein Vater muss viel mehr als nur diplomatisch sein, er hat eine ganz wichtige Position – mit einem picobello Lohn!«
Ich sage nichts mehr.
»Wenn du willst, kannst du zu mir Betty sagen, Betty mit Y .«
»Gehst du gerne in diese Ferienkolonie?«
»Klar. Daheim ist es mir meistens langweilig.«
»Bist du denn ein Einzelkind?«
»Klar. Und ich bin froh, keine Geschwister zu haben. Als Einzelkind bekommst du mehr und musst nichts teilen.«
Ob es ihre Stupsnase ist, dass sie sogar von der Seite besehen stolz wirkt? Wie ich mir ihre Hände angucke, entdecke ich eine Gemeinsamkeit: Was bei mir die Häutchen, sind bei ihr die Nägel: alle total abgebissen! Noch begutachte ich meine Finger, um herauszufinden, welche von uns beiden schlimmer dran ist, da stößt sie mich zwinkernd in die Seite. Mit einer Grimasse zeigt sie auf den grauhaarigen Leiter, der wie ein Wärter im Gang steht. Er hat eine Tasche umhängen, auf der »Erste Hilfe« gestickt ist.
»Letztes Jahr hat er mich verarzten müssen, eine riesige Schramme, man sieht es noch immer. Da, auf der Stirn, lang mal hin!«
Sie nimmt meine Hand und hebt ihre Ponifransen. Ich sehe und spüre nichts. Sie grinst. »Geglaubt?«
Als der Lagerleiter bei einem Stopp beinahe hinfällt, lacht Betty.
Für die Zimmerverteilung sollen wir auf dem Hausplatz alle in zwei Reihen stehen. Buben links, Mädchen rechts. Ich kenne außer Betty kein einziges Kind. Mit mir schlafen die zwei Schwestern, die im Solothurner Bahnhof gar nicht aufhören wollten, ihrer Mutter zu winken. Ihre Großeltern sind aus Neuenburg, deshalb können sie französisch. Damit haben sie schon im Postauto geblufft. Sofort nehmen die beiden das Doppelbett in Beschlag und packen aus, ohne die geringste Notiz von mir zu nehmen. Heute ist Montag, und an einem Samstag reisen wir wieder ab. Das sind zwei Tage weniger als drei Wochen, dann darf ich wieder heim!
Aber dann ist Gerdas Geburtstagsfest schon vorbei, zudem hätten mich Klaras Eltern zu einer Drogistenmesse mitgenommen, und auf dem Tennisplatz feiern sie mit einem Brätelsonntag Jubiläum … All das verpasse ich, während wir hier nichts als wandern müssen.
Zwar habe ich mich Betty angeschlossen und wir sind zusammen in der größeren Mädchengruppe, aber trotzdem habe ich Heimweh. So stark, dass der Leiter die Eltern anruft.
Sie kommen mich auf ihrer Durchreise nach Italien besuchen. Im Kofferraum haben sie ein großes Paket. »Öffne es erst beim Nachtessen«, sagt Mama, »damit wirst du Furore machen!«
»Habt ihr die Billette für Verona noch bekommen?«
»Ja, im letzten Moment hat es geklappt. Nun wird Papa seine Callas also doch erleben können, er hat …«
»Komm endlich!«
Papa blickt nervös vom Steuer auf. »Um fünf müssen wir in Chiasso sein! Wir können Brückners nicht warten lassen, nachdem sie unseretwegen schon einen halben Tag verloren haben. Los, komm!«
Während ich dem Auto nachwinke, stößt mich jemand von hinten in die Kniekehlen…
»Oh je«, sagt Betty, »das habe ich nicht gewollt«. Aber es sieht nicht so aus, als täte es ihr leid, mich umgestoßen zu haben. Ich weiß nicht, was in mich fährt: Ich haue ihr eine runter.
Das Paket ist in das goldene Geschenkpapier gewickelt, das schon durch Großmamas Hände gegangen ist, auch die Samtbändel sind von Weihnachten. Aber die Kinder wissen das ja nicht. Sie stehen neugierig ringsum und raten, was drin sein könnte. Die nette Leiterin mit den dünnen Waden hält sie ein bisschen zurück, als ein prallvolles Fresspäckli zum Vorschein kommt. Nach dem Verteilen bleiben zwei Säcklein Sugus übrig. Betty greift nach ihnen, beisst sie auf und schmeisst die Bobons wild im Saal herum. Am Boden beginnt ein lustiger Kampf um die Beute. Vor dem Einschlafen rühmen die
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