Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
er sie.
Sie muss ihm versprechen, den Träger in der nächsten Garage seriös reparieren zu lassen.
Nach Airolo hinunter lenkt Mama den Wagen äußerst sorgsam um die Kurven. Anton und ich halten den kaputten Ständer zusätzlich mit unseren Händen. Großmama hüstelt, der kühle Wind bläst ihr ins Genick.
Obwohl in der Werkstatt Licht ist, müssen wir mehrmals klopfen. Der Garagist ist nicht größer als Großmama, sein Oberkörper ist bloß mit der dreckigen Latzhose bedeckt, auf beiden Schultern hat er etwas Tätowiertes. Ohne lange zu fragen, stellt er eine kleine Holzkiste neben unseren Käfer, steht breitbeinig darauf und beginnt mit seiner Arbeit. Nach einer Weile geht er zu einem schrottreifen Auto, das hinter der Tanksäule steht. Er demontiert dessen Gepäckträger und winkt Anton herbei. Das Ding sei noch wie neu, meint er. Beim Aufladen stellt sich nun auch Anton auf ein Kistchen, Koni und ich reichen den beiden die Zeltrollen, den Sack mit den Heringen, das zusammengelegte Gummiboot, die Klappstühle und die Liege wieder aufs Dach. Während der Mann alles mit starken Bändern befestigt, unterhält er sich mit Mama wie mit einer Bekannten. Den Gepäckträger gibt er uns gratis, allerdings will er dafür »un bacio«. Er putzt sich mit einem Lappen den Schweiß aus dem Gesicht und hält Mama die Wange hin. Kaum ist sie eingestiegen, tritt er auf die Straße, um uns herauszuwinken.
»Den hättest du jetzt weiß Gott nicht küssen müssen«, findet Großmama.
Wenn ich groß bin, will ich auch wie Mama sein, alle Männer sind in sie verliebt.
Auf der Strada del Sole spielen wir Autozählen. Ich zähle die blauen, Anton die schwarzen. Koni will unbedingt die gelben. Er glaubt uns nicht, dass es in Italien keine gelben Postwagen gibt. Natürlich verliert er.
»Scheißspiel!«
»Kotz bloß kein zweites Mal«, warnt Anton ihn.
»Redet nicht wie Proleten«, mahnt Mama.
»Wa lehrent di öi sottigi Werter!« Und zu Mama sagt Großmama: »Kontrollierst du denn nicht, mit wem die Kinder verkehren?«
Papa kommt mit Petra
Der Zeltplatz ist weniger schön als der, auf dem ich mit Tanta Iris und Onkel Valentin gewesen bin. Die Zelte stehen unter langen Schilfdächern eng eins neben dem andern, am Meer gibt es weder Pinienbäume noch hügelige Dünen. Gerade mal einen schmalen Streifen Sand, und von dem hat das Wasser so viel weggespült, dass wir kaum unsere Frottétücher hinlegen können. Dicht gedrängt sitzen und liegen fremde Menschen um uns.
»Bei Tanta Iris hat’s wenigstens ein Freiluftkino gehabt!«
»Immer hast du etwas zu reklamieren, du bist die einzige, die immer unzufrieden ist«, schimpft Mama, »beginn bloß nicht noch zu poffen!«
»Bringt Papa Petra mit?«
»Warum fragst du, das weißt du doch.«
Wir kennen das Praxisfräulein inzwischen gut. Dienstags spielt ihre Mutter Bridge und kocht nicht, deshalb isst sie dann bei uns und fährt danach mit Papa wieder in die Praxis. Jedesmal macht sie das Gleiche: Bevor sie sich setzt, tänzelt sie auf ihren hohen Absätzen um den Tisch herum und ruft: »Ich habe ja soo einen Hunger!« Und Papa lächelt, weil sie »so kindlich« ist. Einmal hat sie erzählt, man nenne sie »die Marilyn Monroe von Grenchen«. Ich habe dann Mama angeschaut – sie hat nur gelacht.
Großmama schläft nicht bei uns im Zelt, sie wohnt in einem Hotel beim Einkaufsladen. Am Morgen holen wir sie dort ab, und abends nach dem Essen begleiten wir sie in ihr Zimmer; danach warten wir unten, bis sie uns vom Balkon aus zuwinkt. In der Mittagshitze trägt Großmama jeweils das Badekostüm, das Mama für sie gekauft hat. Es sieht oben aus wie ein schwarzes Leibchen ohne Ärmel, unten bedeckt es Großmamas kurze Oberschenkel fast bis zu den Knien. Dazu hat sie einen Strohhut auf, trotzdem meidet sie die Sonne wie der Teufel das Weihwasser. Wenn sich die Leute am späten Nachmittag zurückgezogen haben, gehen Großmama und ich den Strand entlang und sammeln Steine. Wir nehmen nur die ganz Besonderen, und von diesen schenkt Großmama mir die Schönsten.
»Weißt du, wer alle Sprachen reden kann«, frage ich Großmama.
Ohne Zögern sagt sie: »Gott«.
»Nein, das Echo!«
Mein Witz amüsiert Großmama nicht. Obwohl es nicht windet, hält sie eine Hand auf ihren Strohhut und denkt nach.
»Unser Herrgott kann gleichzeitig zu den Negern und Chinesen und zu dir und zu mir sprechen. Das ist viel mehr als ein Echo!«
Während wir weiterspazieren, erzählt sie mir die
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