Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Schwestern meine Eltern. Ich bin stolz, dass ich ihre Tochter bin. Und auch, dass den Buben unser Studebaker so imponiert hat.
Die eine schwanger,
der andere gelähmt
Kaum ist Mama aus dem Haus, sieht Großmama dauernd etwas, das sie erledigen will. Mal ruft sie nach mir, weil sie gewaschene Wolle zu einem Knäuel rollen will und dazu meine Hände zum Halten der Strange braucht, dann wieder müssen Leintücher zusammengefaltet werden … Heute hat es Großmama auf meinen Kleiderschrank abgesehen: »Schämen solltest du dich, als Mädchen derart unordentlich zu sein!«
»Ja, Großmama, ich räum ja auf, aber nicht jetzt.«
»Soso. Ganz nach dem Motto, am Abend wird der Faule fleissig!« Sie steht auf einem Taburett und entrümpelt schon das oberste Fach. »Dü fasch unena a!«
Unten hat sich aber Blitz hineingeschlichen, die Beine von sich gestreckt, liegt er auf meinen Pullovern und wedelt mit dem Schwanz. Als ich Blitz herausziehe, fällt Großmama vor Schreck fast vom Stuhl. Bei ihrem Blick vergeht mir das Lachen.
»Diese Sauordnung! Du musst noch viel lernen, meine Liebe! Nicht alle Ehemänner sind in der Lage, ihren Frauen ein Dienstmädchen zu bezahlen.«
»Ich will sowieso nie heiraten!«
»Und weshalb nicht?«
»Einfach so.«
»Willst du lieber eine alte Jungfer werden?«
Bei Tisch erzählt Mama, dass der Bruder von Frau Brückner heiraten muss, »und wisst ihr wen? Eine Kellnerin aus der
Schwanen-Bar
, und jetzt kommt der Clou: Sie ist erst einundzwanzig, eine Italienerin!«
»Pech!« Papa grinst.
Mama weiß noch mehr Neuigkeiten aus der Stadt: »Dieser Direktor …, wie heißt er schon wieder, dieser Zürcher da, der Daniel in den Tod getrieben hat, nun denn, der hat auf jeden Fall die Hauptagentur nicht freiwillig hergegeben. Seit einem Unfall im Sommer ist er halbseitig gelähmt.«
»Autounfall?«
»Wart’s ab! Eigentlich hat er Glück im Unglück gehabt. À la Grandseigneur wollte er – angeblich mit seiner Frau – auf die
Andrea Doria
! Während sein Taxi zum Hafen von Genua fuhr, sind sie von einem Tankfahrzeug gerammt worden! Ohne den Zwischenfall wäre er glatt mit auf dem Schiff gewesen …«
»… und auch ertrunken«, folgert Großmama. »Unser Herrgott wird schon wissen, warum er den gerettet hat.«
»Ob das gerettet ist: Für den Rest des Lebens ein Krüppel zu sein?« Papa berührt die Geschichte weniger als uns. Für ihn bleibt dieser Mann »en skrupellose Versicherigshängscht«, mit oder ohne Rollstuhl. Er geht zum Radio, »entschuldigen Sie, Mama, darf ich die Nachrichten einschalten?«
Obwohl Großmama eine Frau ist, interessiert sie die Politik auch. Sie hört ebenso gespannt zu wie Papa. Danach möchte sie seine Meinung zur Suezkrise wissen.
»Jetzt hört schon auf, der Tiifel a d Wand z male«, mahnt Mama.
Großmama bringt das Gespräch auf Tanta Isabellas Bekanntschaft. »Ein seriöser Mann«, wiederholt sie sich, »Akademiker, hoch anständig und …«
»Haben Sie seinerzeit von mir auch so geschwärmt«, fragt Papa schmunzelnd.
Er mahnt uns zur Eile: Im Fernsehen kommt
Ein Platz für Tiere
. Papa redet von Grzimek wie von einem Freund, und Mama sagt, der sei der neue Liebling aller Frauen.
»Gell, ich und Koni dürfen eine halbe Stunde mitschauen? Ihr habt es versprochen!«
»Ja, wenn du endlich aufhörst, dich immer voranzustellen, das ist unanständig.«
Wir suchen alle nach Papas Fernsehbrille – allein, sie bleibt unauffindbar. Er rückt seinen Sessel so weit nach vorn, dass er gar nicht mehr zu uns zu gehören scheint.
Noch sagt das Fräulein das Programm an, da rutscht das Bild andauernd weg …
»Haben wir gleich!« Papa dreht an dem einen Knopf, am andern, schaltet den Apparat aus, wieder ein – jetzt flimmert es bloß noch. Mama erinnert an den Sturm von letzter Nacht, »vielleicht …«
»Ja, die Antenne!«
Koni soll draußen kontrollieren, ob sie noch gerade auf dem Dach steht.
»Steckengerade!«
»Das Schweizer Fernsehen ist ebenfalls futsch! Doch am Dienstag senden die eh nicht.«
»Wollen wir einen Jass klopfen?«
Wenn Großmama etwas vorschlägt, sagt niemand nein. Ich sitze dicht neben ihr, um in die Karten zu schauen. Alle wären froh, könnte ich endlich jassen, »zu viert macht es viel mehr Spaß als nur zu dritt«. Großmama wiederholt das, nachdem Papa nicht reagiert hat. Doch er erträgt keine Anfänger.
Die Beerdigung ihrer Basi Bärtha in Visp schildert Großmama ohne große Trauer. Aus der Art, wie sie das Totenmahl
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