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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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ein Zeichen zu schweigen.
    »Muss Onkel Valentin wieder abnehmen?«
    »Warum denn abnehmen? Gefällt dir dein Lieblingsonkel etwa nicht mehr?«
    Weil ich in den verhassten Blauring muss, klaue ich zwanzig Rappen aus der Küchenkasse, um im Kiosk Kaugummi zu kaufen. Ein Zwanziger ist nur stibitzt, dazu muss man nicht »stehlen« sagen. Freudig fahre ich los. Doch in der ersten Kurve rutsche ich auf dem Kies aus … Die Schulter schmerzt, das Knie blutet, und der Lenker ist ganz krumm. Humpelnd stoße ich das Fahrrad nach Hause. Kaum habe ich das Geldstück wieder zurück in die Kasse gelegt, kommt Mama in die Küche. Sie blickt auf mein blutendes Knie. »Um Gotteswillen, was ist denn passiert?«
    »Ich bin verspätet gewesen und zu schnell gefahren.«
    Besorgt kontrolliert sie mein Knie, klebt zwei Pflaster drauf und gibt mir einen Kuss. »Dafür musst du heute nicht in den Blauring!«
    Während wir abends Apfelküchlein mit Zimt genießen, sitzt Papa neben uns im Fauteuil und liest die Zeitung, die er mittags schon gelesen hat. Er will das Znacht so lange auslassen, bis er wieder auf achtzig Kilo ist. Dieses Mal wird es länger dauern: Die neue Apothekerwaage kann Mama leider nicht mehr verstellen. Wir haben es ungern, wenn Papa fastet. Im Gegensatz zu Blitz. Der thront auf dem zweiten Fauteuil und freut sich über die Gesellschaft. Weil er sich mit einer Pfote auf der Lehne abstützt, könnte man meinen, ein Mensch sitze Papa gegenüber. Trieft ihm allerdings der Speichel aus den Lefzen, wird’s grausig. Sobald er den Kopf schüttelt, können wir nur hoffen, es trifft die Wand und nicht einen von uns … Kaum hat die seidene Tapete eine neue Hundeschliere abgekriegt, sagt Papa brummig, Mama solle dafür sorgen, »dass d Jungfröi wider mal das Zig wägputzt«. Die zerkratzten Türrahmen hingegen sind ihm egal, auch die schräg gewordenen Messinggriffe machen ihm nichts aus. Türen öffnen können andere Hunde schließlich nicht. Papa führt die Zirkusnummer seines Boxers gerne unseren Gästen vor. Weniger stolz ist er auf Blitz’ Ungehorsam. Seit der Erziehungswoche beim Hundetrainer macht er vollends, was er will. Einmal ist Papa so wütend geworden, dass er den Mann einklagen wollte, »dene verdammti Dilettant!« Doch Onkel Heinrich hat ihm als Anwalt davon abgeraten. Neuerdings müssen wir Blitz nicht nur beim alten Pösteler wegsperren, sondern auch, wenn der Milchmann kommt. Er hat dem ohnehin ängstlichen Mann das Milchbüchlein aus der Hand geschnappt und ist damit auf und davon! Uns tut Blitz nie etwas; allmählich gewöhnt er sich sogar an unsere regelmäßigen Besucher. Großmama liegt er regelrecht zu Füßen, obwohl sie ihn selten streichelt.
    Bevor wir fertiggegessen haben, darf Koni seine Milch als Test herumgeben. Papa will jedoch nicht den kleinsten Schluck versuchen.
    »Du weißt, ich bin am abnehmen.«
    »Bitte, nur probieren!«
    Koni steht vor Papas Fauteuil und hält ihm die Bierflasche hin, in der er die Milch von Onggi heimgebracht hat. »Stellt euch vor«, erzählt er uns begeistert, »diese Milch ist schon in Rom gewesen, und der Mann, der sie in einem Lastwagen dort hingefahren hat, heißt Kuno und ist ein Soldatenfreund von Onggi. Er kommt aus dem Emmental, dort wo sie den Käse mit den Löchern machen. Die Milch ist noch genauso gut wie unsere frische aus dem Kühlschrank! Nicht wahr?«
    Endlich nimmt Papa einen Schluck. »Tatsächlich, die uperisierte Schweizermilch scheint zurecht Furore zu machen.«
    Mama sieht auf die Uhr und erinnert Papa ans Theater. »Wir müssen uns beeilen, es wird allmählich knapp.«
Nie hab ich in dieses Lager gewollt
    »Bitte mach wenigstens zum Abschied nit so es beschs Gesicht!«
    Obwohl der Zug schon anfährt, tue ich Mama den Gefallen nicht. Zwei Mädchen, die neben mir am Fenster stehen, winken ihrer Mutter mit beiden Händen – weit über den Perron hinaus. Kaum habe ich mich gesetzt, denke ich an Mamas traurigen Ausdruck. Nun tut es mir leid, beim Adieusagen nicht gelacht zu haben.
    Von Spiez nach Äschi bringt uns das Postauto. In den Kurven sollen wir das Dädüdädu des Horns mitsingen. Die Hauptleiterin hat Knickerbockerhosen an und rote Socken mit breitem Zopfmuster. Sie rutschen ihr dauernd hinunter, dann zieht sie sie mit ärgerlicher Miene wieder hoch. »Ihre Waden sind zu dünn«, sagt das Mädchen neben mir. Babette heißt es und will nur zwei Jahre älter sein als ich, obwohl sie schon ein bisschen Brüste hat. Diese Babette redet auf mich

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