Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
zu Hause, während ihre drei Brüder ins Kollegium und danach an die Uni gehen.«
»Suchst du Streit?«
»Du hast ja begonnen.«
Papa schickt mich aus dem Salon. Ich gehe durch die Eingangshalle, öffne und schließe die wc-Tür laut und schleiche mich wieder zurück.
»Komm jetzt nicht mit Josef!«
»Ach so. Über meine beiden Schwestern redest du gerne, aber dein einziger Bruder soll ein Tabu sein.«
»Josef ist tot.«
»Eben. Und warum hat er sich in den Rhein geworfen? Ich will es dir sagen. Weil ihn seine Familie im Stich gelassen hat.«
»Niemand hat gewusst, dass er so kurz vor Weihnachten entlassen wird.«
»Genau. Wir wussten es eben nicht, weil wir uns zu wenig um ihn gekümmert haben, um Josef, den kriminell gewordenen Versager.«
»Josef war kein Versager!«
Mamas Stimme tönt hoch und fremd. Soll ich hineingehen und sie bitten, nicht mehr zu streiten? Ich habe die Hand schon auf dem Türgriff, da redet Papa weiter.
»Vielleicht war Josef in seinen eigenen Augen kein Versager. In den Augen eurer Mama aber sehr wohl. Ein Lehrling statt ein Maturand – das hat sie ihm nie verzeihen können und ihm auch entsprechend zu verstehen gegeben. Das …«
»Hör auf. Ich lasse es nicht zu, dass du über unsere Mama schlecht redest!«
Mama reisst die Salontür auf, wir erschrecken beide. »Dü hesch grad no gfählt!«
Ihr Ausdruck macht mir Angst. Sie geht an mir vorbei ins Schlafzimmer. Bevor mich Papa auch noch erwischt, mache ich mich schleunigst davon. Aus dem oberen Stock höre ich, dass er Mama ins Schlafzimmer folgt. Sie reden nur noch leise miteinander.
Ich bin ja so gespannt: Heute lerne ich Tanta Isabellas künftigen Ehemann kennen! Mama bringt mich auf die Solothurn-Bern-Bahn. »Hast du das Schlafzeug mit und auch sonst alles, was du brauchst?«
»Das fragst du jetzt schon das dritte Mal.«
In Biberist steigt eine Frau ein. Sie tastet sich so unsicher durch den Mittelgang, dass der Zug schon wieder anfährt, als sie sich mir gegenüber hinsetzt.
»Grüessech!«
Sie antwortet nicht.
»Fahren Sie auch nach Bern?«
Ihre Kopfbewegung könnte ein Ja bedeuten. Dass eine so alte Frau noch Zug fährt! Der Rock und das Jäckchen sehen zwar nicht arm aus, aber statt Schuhen trägt sie ausgelatschte Pantoffeln. Und an den Fingerknöcheln hat sie runde Geschwülste. Komisch. Seit sie eingestiegen ist, stinkt es … Nach Pipi? Weil sie mich ständig anschaut, sage ich, »ich besuche meine Großmama. Sie wohnt bei der Wander, das ist die Fabrik, wo die Ovo …«
»Würde es dir etwas ausmachen, mich vorwärts fahren zu lassen?«
»Sicher nicht, Entschuldigung!«
Kaum haben wir den Platz getauscht, wir sind noch nicht einmal in Bätterkinden, schläft sie ein. Hie und da zucken ihre Lippen, vor allem die Unterlippe zuckt, als ob sie nach Luft schnappen würde. Jetzt habe ich doch ihretwegen vergessen zu schauen, ob man vom Biberister Bahnhof aus Bettys Elternhaus sieht.
Großmama trippelt mir zwischen den Aussteigenden hindurch entgegen. Gottlob hat sie den Schleier des schwarzen Hütchens nicht ins Gesicht gezogen, sonst schauen die Leute wieder so blöd.
Auf dem Bahnhofsplatz steuert Großmama vom
Zwölfer
weg. »Wir gehen zu Fuß, Tram fahren können die anderen, wir haben noch gesunde Beine, gell!«
Ich hätte ihr besser nichts von der eigenartigen Frau erzählt. Mein Verhalten entsetzt sie. Ich hätte ihr wenigstens aus dem Zug helfen müssen. »Dü hesch di arm alti Tschütta nidemal gweckt?! Hetschdr de nit leid gita?«
Ich halte Großmama am Ärmel etwas zurück, »schau, dort ist das
Mon Bijou
, dort gibt’s doch die feinen Crèmeschnitten!«
Sie überkreuzt die Straße so abrupt, dass ich um sie herumlaufen muss, damit ich wieder links von ihr bin.
»Unseren Tee und Süßes können wir auch zuhause haben!«
Weil es zuhause nichts kostet und Großmama die Schoggi in der
Migros
für sechzig Centimes bekommt. Das weiß ich, sie hätte mir das gar nicht mehr erklären müssen. Dafür, sagt sie, würden wir uns auf dem Heimweg noch ein paar Blumen kaufen.
Während Großmama kocht, decke ich den Tisch. Danach schüttle ich auf dem Balkon Wasser vom Salat – zu heftig. Auf der einen Seite öffnet sich das Tuch, und ein paar Blätter fallen über das Geländer drei Stockwerke tief ins Gras. Großmama merkt, dass ich mit weniger Salat zurückkomme.
»Dü geisch jez embri und bringsch alls wider embrüf, los, schickti!«
Tanta Isabella ist mit ihrem Verlobten ins Kino gegangen. Wenn
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