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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Pfingstgeschichte, dabei kenne ich die doch längst. Glücklicherweise lenkt ein Stein sie ab. »Oh«, sagt sie entzückt und bückt sich nach ihm. »Schau, das ist eine ganz besondere Trouvaille!«
    Sie will den Stein gleich in meine Schachtel werfen. Aber ich ziehe sie weg.
    »Er sieht wie Bernstein aus – willst du ihn denn nicht? Er ist schöner als alle andern!«
    »Schon, aber ich möchte lernen, durch Verzichten stärker zu werden.«
    »Jaja«, sagt Großmama mehr zu sich selbst als zu mir, »je früher man zu verzichten lernt, desto besser.«
    Eines Mittags fährt der Sportwagen mit dem schwarzen Dach, das nun aber offen ist, durch den Weg zwischen den Zelten. Am Steuer ist Petra, Papa sitzt neben ihr. Das Praxisfräulein hüpft aus dem Wagen und begrüßt zuerst Großmama, wie es sich gehört. »Ich darf bei Ihnen im Hotel wohnen«, sagt Petra zu ihr.
    Wir haben für Papa das lädierte Feldbett wieder zurechtgebogen, ein großes Kissen, eine speziell breite Luftmatratze und Leintücher haben wir auch extra für ihn mitgenommen. Zwischen seinem und Mamas Schlafplatz habe ich aus einer Orangenschachtel einen Nachttisch gemacht. Ich ziehe Papa ins Zelt. »Fast wie daheim, nicht wahr?«
    Sein Gesichtsausdruck macht mir Angst, er könnte ebenfalls ins Hotel ziehen wollen.
    Die Brüder finden nur hohe Wellen interessant, heute, da das Meer glasklar ist, langweilen sie sich. Mit Papa an meiner Seite wage ich mich weit hinaus. »Du schwimmst grandios«, sagt er. Den Stil habe ich ihm abgeschaut; bei jedem Zug tauchen wir mit dem Gesicht ins Wasser.
    Großmama macht bei Mama Bemerkungen über den »ausgeschämten Bikini und das Benehmen des Fräuleins.« Sie ist erst wieder gut gelaunt, nachdem sie fort sind.
    Papa lässt nach der Abfahrt durch Mama ausrichten, dass mein Neid auf Petra ihn enttäuscht habe.
Rassig wie ein Frauenheld
    Tagelang hat Mama für unser Sommerfest alles Mögliche organisieren müssen. Nächstes Jahr soll es kein so großes Fest mehr werden. Doch das hat sie beim letzten Mal auch gesagt. Der Tisch reicht vom einen Ende der Terrasse bis zum anderen. Durch die dicken weißen Tischtücher merkt man nicht, dass es eigentlich mehrere und zum Teil geflickte Tische sind. Papa sitzt am Campingtisch und bereitet an seinem Walliserofen die Raclettes zu. Mit spitzbübischer Freude schabt er für die Männer die
Klosterfrauen
vom Käse. Onkel Hardi blickt als Nichtwalliser fragend in die Runde. »Klosterfrauen?«
    »Das ist das Beste, das sind die geschmolzenen Käseränder«, erklärt ihm Mama.
    »Nun denn«, meint Onkel Hardi, »im Notfall frisst der Teufel Fliegen, und ich hab ne Nonne liegen!« Mit schmatzenden Lauten nimmt er die erste Gabel voll.
    »Wer ist das«, fragt Großmama mich.
    »Ein Freund von Papa, er ist ein Atheist.«
    »Atheist?«
    »Weißt du denn nicht, was ein Atheist ist, Großmama?«
    »Ich schon, aber du scheinst es nicht zu wissen. Sonst würdest du auch wissen, dass man solche Leute meiden muss. Warum sagst du überhaupt Onkel zu ihm, der ist ja gar nicht mit uns verwandt. Gott sei Dank nicht!«
    Ich hätte wohl besser geschwiegen. Gut, dass es bald zehn ist, dann geht Großmama ins Bett, und ich kann mich zu den Buben setzen.
    Tanta Amanda ist mit ihrem neuen Mann Aldo Crivelli hier. Trotz seines italienischen Namens ist er Schweizer. Das erklärt sie denen, die nicht auf ihrer Hochzeit waren und nun die Fotos anschauen. Mit seinen dunklen Locken und dem braunen Teint könnte er ein Frauenheld sein, er ist aber keiner, hat mir Mama erklärt, sondern gut katholisch. Papa mag ihn sehr. Bis auf seine schlechte Kinderstube. Beim letzten Besuch hat Onkel Aldo nämlich die Füße auf unseren Salontisch gelegt. Zwar ohne Schuhe, aber es hat Papa gleichwohl geärgert. Tanta Amanda hat sich mit ihm deswegen gestritten. »Mein Aldo ist Architekt und nicht weniger als du mit deinem Doktortitel«, hat sie ausgerufen.
    Heute sind jedoch alle wieder friedlich, und wenn sie laut werden, ist es »aus purer Lebensfreude«, wie Mama versichert. Ich soll ihr die Kamera holen, sie will die fröhliche Gesellschaft filmen, solange es nicht völlig dunkel ist. Papa und Onkel Valentin stoßen auf ihre Seelenverwandtschaft an und singen zusammen
Trink, trink, Brüderlein trink, lasset die Sorgen zuhaus!
Ein paar Gäste heben das Glas und singen mit.
    »Aber morgen wieder zu Tode betrübt«, sagt Tanta Iris leise zu Tanta Maya.
    »Wer ist morgen zu Tode betrübt?«
    Tanta Maya macht ihrer Schwester

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