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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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dem Schrank. Aber jetzt zögere ich doch, Helens Batzen durch die Zacken zu stoßen: Genau so einen Fünfliber habe ich Margrit für ihre blöden Schlittschuhe gegeben. Es ist zwar eine Zeitlang her, und niemand hat es je bemerkt, zudem habe ihn nicht gestohlen, bloß genommen, mitgenommen für Margrit, man soll schließlich Geld nicht einfach herumliegen lassen … Ich werfe die Münze. Falls der Kopf oben ist …
    So schleiche ich also die Treppe hinab und lege die fünf Franken bei der Garderobe auf das Möbel.
    Wieder im Bett, bin ich froh, dass Gott alles sieht und somit über meine durchaus freiwillige Geste Bescheid weiß. Ob es bei Sünden, die man getan, gebeichtet, gebüsst und später wieder rückgängig gemacht hat, eigentlich so eine Art Gutschrift gibt?
    Am nächsten Morgen ist mein Geld nicht mehr auf dem Möbel. Ich möchte gerne wissen, wer den Fünfliber genommen hat. Mama? Papa? Am Ende gar Koni?
    »Ist das nicht nett«, erzählt Mama beim Mittagessen, »einer unserer Gäste hat gestern beim Heimgehen ein Trinkgeld für Mariella in der Garderobe gelassen.«
Nur das Talent zählt
    Ich habe mir einen Kunstmaler anders vorgestellt, irgendwie künstlerischer. Ein bisschen so wie den Herrn Seidel, mit einer blonden Mähne, ungebügelter Hose, mit wachen, unruhigen, ja manchmal bösen Augen. Aber der Signore Ferrazzi ist ein vornehmer Herr, der seinen dunklen Kittel und die Krawatte sogar beim Malen anbehält. Jeden Tag hat er eine andere Krawatte umgebunden, immer getupfte, breit und niedrig geknüpft. Auch sein Rasierwasser scheint er täglich zu wechseln, Mama findet es etwas penetrant. Obwohl der Pittore kaum jünger ist als Großpapa, sind seine Haare rabenschwarz und glänzend wie gewichste Schuhe.
    Gemalt zu werden, scheint Großpapa keinen Spaß zu machen. Wie er dasitzt – fast ein bisschen missgestimmt wirkt er. Natürlich soll er nicht reden, aber er könnte wenigstens etwas netter schweigen. Denn Signore Ferrazzi ist äußerst empfindsam, sein Gespür lässt ihn fühlen, was wir bloß sehen. Das macht den Künstler aus, sagt Papa, diese hochgradige Sensibilität.
    Anscheinend ist der Signore auch hochgradig gebildet. Seit er im Miramon ist, wird nur noch über Kunst geredet. Koni und ich haben inzwischen seinen Lieblingen Übernamen gegeben: Raffanello, Bottitschiffra, Angelo Michele – und statt Giotto sagen wir Lotto. Heute versucht Mama, das Tischgespräch ein bisschen auf die Heimat unseres Gastes zu lenken. Doch der geht nicht groß darauf ein. »La Svizzera è ora il mio paese, Soletta, Solothurn! Hier ich lebe und hier ich sterbe.«
    Nicht alle Künstler sind so bescheiden wie Herr Ferrazzi. Er wohnt in seiner neuen Heimat wie ein armer Student, als Untermieter bei einer Familie. In einem schönen Patrizierhaus allerdings, mitten in der Stadt. Wenn wir ihn abholen, steht er an der Straße. Mamas Verspätungen machen ihm nichts aus – er steigt immer lächelnd und mit »mille grazie« ins Auto. Vielleicht hat er Dreck am Stecken, dass er nach dem Krieg in die Schweiz gekommen ist und um keinen Preis mehr nach Italien zurückwill. Papa ist das egal. Für ihn zählt nur das Talent. Der frühere Direktor der
Scintilla
hat Signore Ferrazzi sogar nach Deutschland geholt, um die Ahnengalerie seiner Verwandten zu erweitern. Auch wir werden nach Großpapa Großmama porträtieren lassen, danach Mama – und wohl auch Papa.
    Hoffentlich dauert das nicht jedes Mal eine ganze Woche! Würde sich Großpapa nicht wehren, länger als jeweils eine Stunde ruhig dazusitzen, wären sie schneller fertig. Sobald der Pittore Pinsel und Palette in der Hand hat, müssen wir mucksmäuschenstill sein. Die geringste Störung macht Großpapa nervös, sein Gesichtsausdruck verändert sich und Herr Ferrazzi reklamiert. Er sieht die kleinste Regung. Das heißt, er
sieht
den Menschen nicht nur, er
liest ihn
, hat er uns erklärt.
    Heute hat er es auf mich abgesehen. Ich spüre, dass er mich beobachtet, obwohl er sich ganz normal am Tischgespräch beteiligt. Hoffentlich denkt unser Gast nicht, mein Schweigen richte sich gegen ihn. Ich bin nur wegen Mama sauer. Sie hat mich gestern »eine Hexe« genannt. Ich lache absichtlich nicht mit, wie Koni ihnen jetzt das mit unseren Übernamen für die Künstler ausschwatzt. Großpapa nennt es »reschpäktlos«, sein Gesichtsausdruck verrät indes alles andere als Ärger. Herr Ferrazzi fragt, weshalb ich traurig sei. Mit seinem Akzent klingt schon die Frage selbst ganz

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