Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
entschuldigt sie sich mit keinem Wort.
Gerda und ich sind die Einzigen mit richtigen Schlittschuhen, besser als die anderen fahren wir trotzdem nicht. Margrit bringt sogar auf meinen alten Eisen eine Pirouette zustande! Mich haut’s beim ersten Versuch so aufs Steißbein, dass ich keine Kunststücke mehr ausprobiere.
»Ihr könnt auch an unser Feuer kommen, wenn ihr wollt!«
Dem Ruf der Buben folgen wir gerne. Bis sie wieder mit ihrem Eishockey beginnen, müssen wir uns mit der Seite, wo der Rauch hinweht, begnügen. Gerda hat Schokolade mit, teilt ihre Brotschnitte in zwei Hälften und legt sie dazwischen.
»Darfst du in der Fastenzeit Schoggi essen?«
»Sieht ja keiner«, antwortet sie und schaut hämisch auf meinen Apfel. Der ist im Sportsack so kalt geworden, dass mir die Zähne wehtun. Nach der Pause will keine mehr aufs Eis. Die ersten machen sich schon für den Heimweg bereit. Ich suche in meiner Jackentasche nach dem Fünfliber. Er ist bei uns zuhause herumgelegen …
Margrit steckt das Geldstück ohne Zögern ein. Dann sagt sie: »Los, gib mir die Schlittschuhe, ich muss sie heute mit heimnehmen, oder willst du, dass meine Mutter deiner Mutter telefoniert?«
»Spinnst du? Meine Eltern wissen doch nichts davon, ich verstecke sie immer im Kleiderschrank …«
»Eben. Und dann bluffst du hier mit fremden Sachen. Da, du kannst deine lausigen Eisen wieder haben! Und jetzt gib mir sofort die Schlittschuhe zurück! Meine Mutter sagt nämlich, ein paar lederne, quasi neu wie die hier, sind viel, viel mehr wert.«
Ich werfe sie ihr vor die Füße. »So nimm sie doch! Aber ich will auch meinen Fünfliber zurück!«
»Sicher nicht, ihr habt ja genug Geld!«
Wieder mal Glück gehabt
Für die Parkbusse, die ich habe verschwinden lassen, hat Papa eine Mahnung bekommen. Er hält sie Mama hin und wirkt beinahe etwas amüsiert – sie desgleichen. Nun werden sie sich allerdings nicht einig, wer wem was verheimlicht hat. Noch nehmen sie einander in heiterem Ton hoch. Allmählich aber verliert Papa die Geduld. Mir kommt der rettende Gedanke: »Geht ihr heute nicht ins Theater?«
Mama schaut auf die Uhr. »Du meine Güte, ich muss mich umziehen!«
Damit ist das Thema Parkbusse vorläufig vom Tisch.
Mama kommt mit dem dunkelblauen Kleid aus dem Schlafzimmer, schlüpft vor dem Schuhschrank in ihre Pumps und geht ins Bad, um sich schön zu machen. Ich setze mich auf den Rand der Badewanne und beobachte sie. Noch ist sie nicht fertig geschminkt, da legt sie plötzlich die Make-up-Tube auf das Lavabo, greift mit beiden Händen seitlich an ihre Wangen, zieht die Haut nach hinten, prüft sich im Spiegel, blickt jetzt zu mir.
»Schau«, sagt sie, »so sähe ich aus, wenn ich mich liften ließe.«
»Was ist das?«
»Das ist in Amerika gang und gäbe: Die Frauen lassen sich von einem Schönheitschirurgen die Falten strecken, und dadurch sieht eine Vierzigjährige dann wieder wie dreißig aus.«
»Willst du das auch machen?«
»Nein, nein. Das machen vor allem die Filmstars.«
»Du, wie ist das mit dieser Mahnung, muss Papa jetzt auf den Polizeiposten?«
»Ach woher.«
»Warum habt ihr euch denn aufgeregt?«
»Weißt du, wenn mir Papa schon eine Buße verheimlichen will, soll er sie wenigstens rechtzeitig bezahlen.«
»Ist etwas verheimlichen denn so schlimm?«
»Kommt drauf an, was.«
»Stimmt es, dass jeder Mensch Geheimnisse hat?«
Mama rollt die geschminkten Lippen kurz ein, tupft sie sich mit einem Kosmetiktüchlein ab und schubst mich hinaus. Ich soll Papa aus dem Herrenzimmer holen, »es wird höchste Zeit, dass er sich ankleidet.«
Auf Papas Pult liegt das Couvert der Polizei. Er hat es mit Klebeband wieder verschlossen, darauf steht, quer gekritzelt und zweimal unterstrichen, »refusé«. Das heißt, »zurück an den Absender«, Mama schreibt das hie und da auf Bettelbriefe.
»Komm mit ins Schlafzimmer, du kannst mir die Krawatte aussuchen!«
Nachdem Papa meine Wahl gutgeheißen hat, zieht er das getragene Hemd aus und wirft es mir mit einem »los, fang!« zu. Die Sache mit der Mahnung scheint er bereits vergessen zu haben. Während er sich vor dem Spiegel die Krawatte knöpft, summt er. Ich singe sofort mit: »
Der Lumpenhund, der Galgenstrick, der Schrecken jedes Mannes
… Gell Papa, so geht es?«
»
Genau,
der Schrecken jedes Mannes und auch der Weiber Stück!«
Er zieht sich den Kittel an, holt beidseitig die Hemdsärmel etwas heraus, prüft, ob die Manschettenknöpfe richtig angebracht sind.
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