Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
mir das x-te Mal die Welt erklärt hast, deine Welt, habe ich einen Strick geholt, ihn über uns an der Pergola festgebunden, bin auf einen Stuhl gestiegen und habe dir zugerufen: Rette mich, wenn du mein Freund bist!«
»Weiter! Weiter!«
»Nun, der Mönch hat sich eine Schlinge geknüpft, hat sie sich um den Hals gelegt … Dann hat er aber so lange gezögert, bis ihn der Künstler vom Stuhl gehoben hat. Wir sind uns zuerst in die Arme und dann übereinander zu Boden gefallen, und dann sind wir eingeschlafen – bis zum Sonnenaufgang. Bevor wir uns ins Bett geschleppt haben, haben wir uns die Hand auf das Versprechen gegeben, weiterzustudieren und nicht von dem eingeschlagenen Weg abzuweichen.«
Papa steht auf und sagt in recht feierlichem Ton: »Ja, beide oder keiner!«
Onkel Linard nickt. »Beide oder keiner, genau so haben wir es uns geschworen. Und beide haben wir es geschafft. Du als Zahn- und ich als Ohrengrübler, aber gereut hat es uns noch nie, oder?«
Papa kommt um den Tisch, und die beiden umarmen sich, wie es sonst nur die Italiener tun. Bevor Papa zurück an seinen Platz geht, haut er dem langen dünnen Freund noch ordentlich eins auf die Schulter.
Mama erkundigt sich nach den Zwillingen und nach der neuen Haushaltshilfe. Onkel Linard kann nur Gutes sagen. Die Zwillinge bereiten sich willig auf die Gymiprüfung vor, und das Fräulein Lisetta aus Bolnuevo »ist unkompliziert, kompetent und offenherzig. Und obendrein noch hübsch«, fügt er hinzu.
»Hübsch und offenherzig«, wiederholt Papa. Mama zwinkert uns zu.
Anton ist enttäuscht, dass die Zwillinge nicht auch ins Kollegium kommen. Er versucht, Onkel Linard umzustimmen. Doch dieser sagt bloß: »Du meinst, nachdem mir die Frau gestorben ist, soll ich auch noch die Buben hergeben?!«
Weil die Gespräche nicht mehr für uns Kinder sind, schickt uns Papa in die Storchensiedlung hinter dem Restaurant.
Bevor wir ins Auto steigen, sollen wir den Dreck aus den Schuhsohlen klopfen. Koni macht dazu seinen Negertanz. Alle lachen – bis auf Anton. Am Stadtrand von Solothurn, beim Fußballplatz, will er aussteigen. Mama ist erleichtert. »Gut, dass er andere Buben trifft, sonst verliert er noch jeglichen Kontakt zu den hiesigen Altersgenossen.«
Kaum sind wir zuhause, ist aber auch Anton wieder da.
»Hast du keinen deiner Freunde getroffen«, fragt Mama besorgt.
»Freunde?«
Anton holt sich seinen
Karl May
und setzt sich damit in einen Lehnstuhl auf die Terrasse.
Fasnacht am Sommerfest
Wenn ihr Freude habt und Lust
So kommt am zweiten Samstag im August
Das Bassin ist bereit
Bei schönem Wetter wird es eingeweiht
.
Mama hat die Einladungen geschrieben, und ich habe ihr geholfen, die Fotos aufzukleben: Wir drei Kinder sind im Wasser und winken.
Die Autos der Gäste säumen den ganzen Tannenweg hinunter bis zum Haus, in dem Benedikt wohnt. Onkel Fred und Papa grillen, Onkel Arthur und Onkel Hardi sind für das Öffnen der Weinflaschen zuständig. Onkel Linard ist in Begleitung seiner Haushaltshilfe gekommen. Dass es nur seine Haushaltshilfe ist, weiß außerhalb unserer Familie keiner. Wir sollen es niemandem verraten. Sie sieht überhaupt nicht wie eine Angestellte aus, mit ihrem kohlrabenschwarzen aufgetürmten Haar gleicht sie eher einer Prinzessin. Onkel Linard soll früher auch dunkle Haare gehabt haben, die, die ihm über den Ohren geblieben sind, sind nun aber weiß. Er nennt sie Lis statt Lisetta, Fräulein Lis, und hat ihr extra für diesen Abend ein Kleid gekauft. Das von Mama ist aber schöner. Mariella hat es nach einem Bild aus einem Modeheft geschneidert, echter Taft. Dazu trägt sie ihre neuen Stöckelschuhe. Papa hat ihr gleich drei Paar geschenkt. Er findet, auf sehr hohen Absätzen wirken Mamas Beine schlanker. Wir haben im Voraus mit Mariella essen müssen. Während nun die Erwachsenen am Tisch sind, spielen meine Brüder und ich im Garten Krocket. Als es dunkel wird, zündet Anton die Fackeln und Lampions an. Koni und ich reihen die Weinzapfen auf dem Terrassenmäuerchen auf, zwischen jeder Fackel fünf. Noch bevor wir bei der letzten sind, müssen wir ins Bett. Alles Betteln hilft nichts.
»Ich komme auch«, sagt Großmama.
Damit ist unser Schicksal besiegelt. Obwohl ich offeriert habe, Mariella beim Abwaschen zu helfen, lässt sich Mama nicht erweichen. Dabei hätte ich ihr ehrlich gerne geholfen. Schließlich ist es Mariellas letztes Sommerfest bei uns. Sie geht zwar nicht zu Nera in die Fabrik, aber in der
Missione
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